Wo Tiger zu Hause sind
wissen …«
Er schloss die Augen, um sich besser zu konzentrieren. Wie sollte er das jetzt sagen, nach diesem verpatzten Anfang, ohne dämlich oder sentimental zu klingen? Die Wörter, die ihm in den Sinn kamen, konnten bei weitem nicht ausdrücken, was er für diese Frau empfand, seit sie irrtümlich in seinen Armen gelandet war. Aus einer allzu feierlichen Liebeserklärung würde sie nur seine Angst vorm Sterben heraushören. Und da hätte sie nicht einmal ganz unrecht …
»Detlef?«
»Zu spät«, sagte er mit einem gekünstelten Lächeln. »Ich bin einfach zu fertig. Vergiss es, ja?«
Dann gingen sie auf dem von Yurupig gebahnten Weg weiter. Elaine setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen, musste bei jedem Schritt den Schuh aus dem schmatzenden Schlamm ziehen. Innerlich war sie weit weg vom Dschungel und der kleinen Gruppe, vor der sie herwanderte. Wie ein übermüdeter Autofahrer glitt sie immer wieder in länger werdende Traumsequenzen ab, die von ihrer Rückkehr nach Brasilia handelten. Sie stellte sich vor, wie sie die Fragen der Kollegen und Journalisten beantwortete. Als Erstes würde sie Moéma anrufen, um sie zu beruhigen, vielleicht auch Eléazard, unter dem Vorwand, zu hören, wie es ihm geht … Nein, er würde sie anrufen, oder auf dem Anrufbeantworter wäre eine Nachricht von ihm. Ein paar besorgte Worte, der Vorschlag, es noch einmal miteinander zu versuchen … Ohne recht zu wissen, warum, war sie gewiss, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor, dass all dies – nicht nur die Erlebnisse der letzten Tage, sondern alles, ihr Kummer, die Enttäuschungen, die Scheidung –, dass das ganze Durcheinander einen verborgenen Sinn hatte, ein positives Potential, das früher oder später kraftvoll zur Entfaltung kommen würde. Woran hatte es mit Eléazard gehapert? Und seit wann? Wo war der Ursprung, der genaue Moment, ab dem sie sich voneinander entfernt hatten? Zu dieser Weggabelung mussten sie zurück, um bewusst den anderen Weg einzuschlagen, den Film bis zu ihrem ursprünglichen Glück zurückzuspulen, zu dem Standbild, mit dessen Hilfe sich ihr Scheitern negieren ließe, unmöglich würde. Sie sah die kleine Terrasse des alten Hauses vor sich, wo sie vor fünfzehn Jahren gelebt hatten, während ihrer Zeit in Frankreich. Der Holztisch unter dem Gewölbe, die Wespen, die den Wein umsurrten, die wunderbar benommenen Siestas im Schatten der Platane …
Dass sie zu Boden stürzte, weckte sie, machte ihren Kopf aber nicht klarer. Sie hatte das Gefühl, etwas furchtbar Schweres würde ihren Rücken an den Boden fesseln; ihre steifen Muskeln taten weh, dass sie hätte schreien mögen.
Mauro eilte herbei:
»Haben Sie sich weh getan?« Er half ihr, den Rucksack abzustreifen und sich hinzusetzen.
»Es ist nichts … Ich kann nur einfach nicht mehr … ich …«
Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht, um die Schlammflecken wegzuwischen:
»Ruhen Sie sich ein bisschen aus, wir machen eine Pause. Ich bin auch völlig fertig.«
Mauro ging zurück und trug mit Petersen die Trage herbei. Trotz des Aspirins, das er eingenommen hatte, fieberte Detlef immer noch stark. Besorgt betrachtete er Elaines zerfurchtes Gesicht:
»Hast du wirklich nichts? Was ist passiert?«
»Ach, es ist lachhaft.« Elaine wurde rot. »Ich glaube, ich bin im Gehen eingeschlafen … Ich esse ein Stück Zucker oder zwei, dann geht es wieder.«
Sie kämpfte gegen die Tränen und darum, einigermaßen zuversichtlich auszusehen.
»Oh, das ist eine gute Idee«, bemerkte Petersen ironisch. Dann wurde er ernst: »Den Zucker haben Sie in dreihundert Metern wieder ausgeschwitzt. Wenn wir alle zehn Minuten eine Pause einlegen, kommen wir nie an, lassen Sie sich das gesagt sein!«
»Wir placken uns aber schon seit Stunden ab«, sagte Mauro genervt. »Also hören Sie mit dem Scheiß auf, ja? Wir können eben nicht mehr, alle drei nicht …«
Detlef sah sie betrübt an:
»Ihr vergeudet eure Kräfte unnütz. Kommt, lasst uns eine Pause machen, weil
ich
nicht mehr kann, weil
ich
pissen muss und weil ich auf dieser Trage seekrank werde …«
Petersen grub in seiner Hosentasche herum und förderte ein Filmdöschen zutage:
»Hier, nehmen Sie ein bisschen davon, das macht Sie wieder fit.« Er warf es vorsichtig Elaine zu.
Sie fing es im Fluge auf. »Was soll das sein?«
»
Cocaina
. Besser als Zucker, das können Sie mir glauben.«
Elaine begriff sofort. Und sie hatte gedacht, er braucht etwas gegen Schnupfen! Ohne
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