Wo Tiger zu Hause sind
weiter nachzudenken, warf sie das Döschen zurück:
»Danke, dann doch lieber Zucker, wenn’s recht ist.«
Eine Sekunde lang hatte Mauro den Gedanken, einen Versuch könne er ja wagen: Die Peruaner von den Hochplateaus kauten schließlich Kokablätter, um durchzuhalten … Er begegnete Detlefs warnendem Blick und tat lieber keinen Mucks.
Elaine richtete all ihre Aufmerksamkeit auf den Dschungel. Die Bluse klebte ihr an der Haut, ihr Haar troff von Schweiß. Ihr Missgeschick kränkte sie noch im Nachhinein, und so bemühte sie sich, Yurupigs Markierungen schon von weitem zu erspähen und so den beiden anderen, die sich mit der Trage abmühten, jede Verzögerung zu ersparen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so rackerten, da ließ eine Bewegung im Laub sie erstarren: Erstmals während ihrer Wanderung durch den Dschungel war es nicht das Zeichen für eine Flucht, sondern dafür, dass etwas näher kam. Instinktiv fasste sie den kurzen Griff der Machete fester. In derselben Sekunde stand ein Mann vor ihr, ein nackter Indio, ein schwarzes Loch statt eines Mundes, eine gefiederte Mumie, aus der urplötzlich und lautlos zwei wurden.
»Stehen bleiben!«, rief Petersen, denn sie wich zurück, stumm vor Entsetzen. »Nicht weglaufen!«
Schon standen rund zwanzig mit Bögen und Blasrohren bewaffnete Indios vor ihnen. Sie warteten, reglose Götter, im Bewusstsein ihrer Überlegenheit.
»Freunde!« Elaine streckte die Arme aus, um ihre guten Absichten zu beweisen. »Wir haben uns verlaufen, versteht ihr? Verlaufen!«
Allein der Klang ihrer Stimme schien sie aus der Fassung zu bringen. Ein paar Schreie gellten, gefolgt von beeindruckenden Drohgebärden. Einer trippelte auf der Stelle und deutete auf Elaines Arm.
Herman verlor die Nerven. »Das Gewehr! Schnell das Gewehr her!«
»Langsam!«, mahnte Detlef auf der Trage. »Lass die Machete fallen. Freunde!
Yaudé marangatù
, wir wollen nichts Böses!«
Die Indios reagierten sofort, als die Machete am Boden lag. Der offensichtliche Anführer sagte ein paar Worte, der Nächststehende sammelte den Gegenstand ihrer Begehrlichkeit vor Elaines Füßen auf, dann trat der Erste einen Schritt vor und sprach Detlef an.
»Was sagt er?«, fragte Mauro.
»Keine Ahnung«, gab Detlef zu, lächelte sein Gegenüber aber weiter ostentativ an. »Es klingt fast wie das Guarani, das ich gelernt habe, aber ich verstehe kein einziges Wort. Vielleicht irgendeine Variante … Immerhin scheinen sie sich beruhigt zu haben.
Ma-rupi?
«, versuchte er und deutete auf den von Yurupig markierten Weg. »Fluss, wo? Weißer Mann?«
Der Indio legte den Kopf zur Seite, kratzte sich am Schenkel, um seine Verlegenheit zu bemänteln. Als nichts weiter geschah, gab er einen knappen Befehl, und zwei seiner Leute traten an die Trage.
»Ich glaube, sie haben verstanden«, meinte Mauro erleichtert.
»Scheiß Wilde!«, schnaufte Petersen. »Wer weiß, was die verstanden haben, aber jetzt müssen wir ihnen auf den Fersen bleiben.«
Aus Eléazards Notizen.
DIEJENIGEN HÖREN , die schweigen, weil sie zu viel geschrien haben …
AN DER BAR GEHÖRT :
Mulher é como fósforo: cuando esquenta, perde a cabeza
– Frauen sind wie Streichhölzer: Wenn sie entbrennen, verlieren sie den Kopf.
»WARUM WERDEN IMMER NUR KATASTROPHEN vorausgesehen?«, fragt Hervé le Bras. »Warum nicht auch einmal sehen, dass manche Folgen des menschlichen Tuns uns schützen könnten, statt uns zu bedrohen?« Wenn es stimmen sollte, dass wir uns recht rasch auf eine heftige neue Eiszeit zubewegen, dann sollten wir doch dringend versuchen, den Treibhauseffekt zu verstärken, statt ihm entgegenzuwirken.
DAS 21 . JAHRHUNDERT wird ein genaues Abbild unserer Enttäuschungen sein: Es ist mit einem fortschrittsfeindlichen Jahrhundert zu rechnen.
DAS KÖNNTE MAN NOCH MAL BRAUCHEN : ein Endchen Faden, ein Stück Holz, Plastik, Gummi, kleine Metallteile, defekte Motoren, nicht zueinander passende Teile: Elemente eines zerstreuten Ganzen, eines zerstückelten Osiris, die dazu dienen könnten, im Universum der Dinge eine Einheit, etwas Unversehrtes wiederherzustellen. Die aber auch etwas ganz Neues, Unvorhergesehenes, Niegesehenes bilden könnten, das zufällig entstünde und dem sie eine Geschichte zuschreiben würden. Sammeln und Bewahren als Basis der Kreativität. Der Lumpensammler als Demiurg einer möglichen Welt; der Dachboden als naturgegebener Unterschlupf der Poesie. Und auch, wenn all diese Dinge niemals zu
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