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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Kirchers Gesundheit stetig. Der Oktober sah ihn erste Schritte außerhalb seines Bettes tun, & bald konnte er sich bewegen wie zuvor. Seine Redefähigkeit jedoch hatte andauernd gelitten, & bis zum Ende blieb ihm ein leichtes Zittern der Zunge, dessentwegen er bisweilen etwas stockte oder aber, wenngleich seltener, Wörter vertauschte. Kein Gedanke allerdings daran, etwa zu schreiben oder sich irgendeiner Arbeit zu widmen, dafür war er zu geschwächt. Doch was soll’s – er lebte, dachte, sprach! Wie hätte ich Gott nicht täglich danken sollen, mir diesen Trost zu gönnen?!
    Indes muss ich gestehen, dass sich winzige Änderungen seiner Persönlichkeit ereigneten, welche ich nicht sogleich bemerkte, die aber in der Folge erkennbar werden sollten. Kircher erwies sich als ebenso leutselig, wenn nicht gar mehr, wie vor dem Schlaganfall, & seine körperliche Verfassung verriet nichts als die Folgen seiner langen Bettlägerigkeit. Er war blass, seine Zähne wackelten & fielen nacheinander aus; Haupt- und Körperhaar, schon lange weiß geworden wegen der Studien, lichteten sich … Doch war das alles für Männer seines Alters ganz gewöhnlich, auch für weniger Hinfällige als ihn. Nein, was sich während seiner Genesung unmerklich wandelte, war sein Benehmen. Als er mir zwei Wochen vor Weihnachten erläuterte, wie eine Wasserpfeife seiner Erfindung zu konstruieren sei, dazu bestimmt, den Rauch des Opiums zu kühlen & nach Gefallen zu aromatisieren, verwendete er auf einmal die dritte Person, um von sich selbst zu sprechen …
    »Er wünscht also«, sagte er ohne jeden Anflug von Scherz, »dass du schnellstmöglich diesen Apparat bauen lässest, dessen sein Organismus so sehr bedarf, um seine Schwächung zu überwinden.«
    Verblüfft hätte ich ihn beinahe gefragt, »wer« ihn gelehrt hatte, diese bereits den Barbaren bekannte Pfeife zu vervollkommnen … Er tat so, als bemerke er mein Erstaunen nicht, doch im Weiterreden gab er mir ganz nebenbei den Schlüssel zu dieser Neuerung:
    »Denn derjenige, der bleibt, ist nicht mehr derselbe …
Ich
ist letzten August gestorben, Caspar, &
er
wird alle nur denkbaren Hilfsmittel benötigen, um hoffen zu können, ihm eines Tages wieder zu ähneln.«
    Angesichts dieses Einfalls & dessen, was er an Klarsicht über seinen Zustand verriet, lief es mir kalt über den Rücken. Zum Glück kehrte mein Meister sogleich zur gewöhnlichen Sprechweise zurück & verwendete die dritte Person nur zu wenigen Gelegenheiten, wenn er nämlich die Verminderung seiner selbst im Vergleich zu dem Manne verdeutlichen wollte, der er nicht mehr war.
    In derselben Weise stellte ich bei meinem Meister eine ganz neue Art fest, von seinem bevorstehenden Tode zu reden. Darin hatte er einerseits freilich nicht unrecht, denn sein Alter & seine Krankheit ließen dieses große Unglück höchst wahrscheinlich sein; schockierend jedoch war seine Art & Weise dabei: Stets lächelnd, wie es seinem Wesen entsprach, beschrieb er mir haargenau & mit allerlei makaberen Details, was mit seinem Leibe geschehen werde, wenn die Würmer sich über ihn hermachten, & er beharrte wie voller Vergnügen bei dem schaurigen Gewimmel, das mit der Verwesung einhergeht.
    Bei dieser Gelegenheit vertraute mein Meister mir an, was er hatte sagen wollen, als jener Anfall ihn so jäh unterbrach. Sein Vorhaben bestand darin, den Körper eines Sterbenden unablässig zu wiegen, um festzustellen, ob das Aushauchen der Seele dessen Gewicht verminderte, und, falls dem so sein sollte, um wie viel. Das Experiment war einzigartig, um nicht zu sagen anstößig, & so schlug er vor, es an sich selbst vorzunehmen, da er sich auf meine Freundschaft & Hilfe verlassen könne.
    »Dies wird mein letzter Beitrag zu den Wissenschaften«, fügte er ernst hinzu, »& ich beauftrage dich, alle Beobachtungen festzuhalten, um sie nach meinem Hinschied zu verbreiten …«
    Gemäß Athanasius’ Anweisungen begannen also Pater Friedrich Ampringer & ich mit der Konstruktion einer zu diesem Zwecke geeigneten Waage. Da Kirchers Genie immer noch wunderbar wirkte, gelang es uns, in seinem Zimmer ein System aus Flaschenzügen zu installieren, an dem sein Bett hing & das mittels etlicher Gewichte dessen Masse bestimmen konnte. Für den Fall, dass er des Nachts hinübertreten sollte, befahl mein Meister mir, die Waage allabendlich vorm Schlafengehen auszurichten; fände ich ihn tot im Bette, bräuchte ich nur das Gleichgewicht wiederherzustellen, um das

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