Wo Tiger zu Hause sind
nicht an die Wellblechdecke zu stoßen; er befestigte eine zweite Hängematte neben Nelsons, fast hing sie in den Sand, dann leerte er die mitgebrachte Plastiktüte aus.
»Nur ein paar Kleinigkeiten … Ich brauche sie nicht mehr.«
Er stellte einen Kanister Olivenöl auf den Boden, drei Kegel
Rapadura
, den gepressten Rohrohrzucker, den der Aleijadinho so gern naschte, dazu eine riesenhafte Mango und einige Eier. Zé hatte das alles natürlich eigens für ihn gekauft, aber Nelson dankte ihm nur wie nebenher, um den Schein zu wahren. Beide schätzten aneinander diese Diskretion, die größere Gefühlsaufwallungen zu vermeiden half.
»Wo kommst du gerade her?«, fragte Nelson und goss Cachaça in zwei Gläser. Zé nickte betrübt und überlegte traurig, wie viel sie ihm dafür wieder abgeknöpft haben mochten. »Das wäre nicht nötig gewesen. Du weißt genau, das ist nicht gut für dich …«
»Wo kommst du her?«, wiederholte Nelson und sah ihm unverwandt in die Augen.
»Aus Juazeiro. Hab zwanzig Tonnen Zement an ein Unternehmen geliefert. Auf dem Rückweg hab ich in Caniné haltgemacht. Die Leute da unten sind am Verhungern, ich hab gehört, es soll vierzig Pestkranke geben.«
»Pest?«
»Der Schwarze Tod. Die Ärzte des Krankenhauses würden die Stadt am liebsten unter Quarantäne stellen, aber der Bürgermeister will nicht, dass es sich herumspricht, wegen der Wahlen. Immer dieselbe Geschichte!
Die Armen werden nicht dick, sie schwellen an
– hab ich an einem Mercedes-Sattelschlepper gelesen, einem
pau de arara
, der von den Plantagen kam.«
In ganz Brasilien erdichteten die Fernfahrer »Maximen«, die sie auf einer verzierten Holztafel vorn und hinten an ihren LKW anbrachten. Manche waren humorvoll oder poetisch, andere waren ein Beitrag zur allgegenwärtigen Frauenfeindlichkeit, die meisten drehten sich um das immer wieder aufs Neue abgehandelte Thema des Lebensüberdrusses. Auf den von allerlei bunten Aphorismen befahrenen Straßen hatte Zé seine ganze Philosophie gelernt. Mit seinen fünfzig Jahren – er sah viel älter aus, wie die meisten kleinen Leute im Nordeste – konnte er Hunderte solcher Sinnsprüche auswendig. Jedes Mal, wenn er einem anderen Laster begegnete, prägte er sich rasch diese unter der Windschutzscheibe angebrachten Sprichwörter unbekannter Autoren ein, die alle von Ironie, Mystizismus oder Leiden kündeten. Stunden-, manchmal tagelang grübelte er über sie nach, übernahm schließlich die ätzendsten in seinen Vorrat an Sprüchen und spickte damit seine Äußerungen. In Nelsons Augen war er ein Weiser, umso mehr, als an Zés eigenem Truck ein Satz prangte, der ihn immer wieder verblüffte:
A vida é uma rede que o destino balança
– Das Leben ist eine Hängematte, die vom Schicksal geschaukelt wird.
»Ach ja, fast hätte ich’s vergessen«, Zé griff in seine hintere Hosentasche. »Hier, ich hab noch was für dich. Habe ich in Petrolina gefunden.«
Er gab Nelson zwei Heftchen mit
Literatura del Cordel
, jenen langen, volkstümlichen Vers-Epen, die überall im Sertão zirkulierten. Verfasst und illustriert wurden sie von wandernden Gitarristen, den
Violeiros
, die sie auf schlechtes Papier druckten und in Kneipen, auf Märkten und Straßen zum Besten gaben. Zum Verkauf spannten die
Violeiros
eine Schnur zwischen zwei Bäumen auf und hängten die Heftchen daran; daher der Name »Strippenliteratur« für diese Kolportageheftchen.
Nelson konnte einen Text zwar Wort für Wort entziffern, aber zusammenhängend zu lesen fiel ihm schwer; er brauchte diese Gedichte nur ein- oder zweimal zu hören, schon konnte er sie auswendig.
»Hier haben wir
Die Kuh hat angefangen, über die derzeitige Krise zu reden
und
João Peitudo, der Sohn von Maria Bonita und dem Lampião
«, erklärte Zé. »Sollen wir sie nachher zusammen singen?«
Nelson kannte nichts Schöneres: Er hatte gelernt, auf seiner Gitarre den monotonen Rhythmus zu schlagen, zu dem man die Texte laut skandierte. »Warum nicht gleich?«, fragte er und schlängelte sich zu seinem Instrument. »Womit fangen wir an, mit dem
Sohn von Maria Bonita und dem Lampião
?«
»Ich muss dir erst etwas erzählen. Du weißt ja«, und Zé blickte auf seine dicken, abgearbeiteten Hände, »früher hatte jeder Fahrer einen Hund in seinem LKW , heute fährt jeder Hund einen Laster … Es wird immer schwieriger, eine Fuhre zu ergattern, und ich hab jetzt Probleme, den Kredit für meinen Berliet abzuzahlen … Also, ich war
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