Wo Tiger zu Hause sind
Gott Erwählten sind ihren Mitmenschen häufig irre erschienen. Doch beschreibt Pater Angelucci das Ersehene derart ernsthaft, & es übersteigt die menschlichen Begriffe in einer solchen Weise, dass er, so meine ich, in der Tat so glücklich war, einem wahrhaftigen Wunder beizuwohnen.«
»Eine korrekte Antwort«, entgegnete Kircher, »und doch ist sie falsch. Korrekt im Sinne der Logik, doch falsch im Sinne der Wahrheit. Denn der Verfasser dieses Briefs ist weder verrückt noch auserwählt: Er ist nur einfach ein Opfer seiner Unwissenheit, wie auch du, mein lieber Caspar, in deiner Antwort. Das, dem Pater Angelucci hier beigewohnt hat, diese sagenhafte Fee, zu Italienisch
Fata
, also die Fata Morgana, ist kein Wunder, sondern eine Luftspiegelung! Die Säulen, die unser Mitbruder aus Reggio erblickte, waren gewisslich jene der griechischen Tempel von Agrigent und Selinunt, munter ins Unendliche vervielfacht & verformt durch die fortschreitende Metamorphose des Wasserdampfs. Dennoch«, lächelte er, »würde ich viel darum geben, Zeuge einer solchen Sinnestäuschung zu sein & vor allem … untersuchen zu können, ob meine Sicht der Dinge zutrifft.«
Noch einmal trocknete er sich die Stirne ab & wandte sich alsbald wieder seinen Notizen zu, ohne meine Niederlage weiter auszunutzen, wofür ich ihm dankbar war: Wieder einmal hatte er mit wenigen Worten ein Mysterium gelöst, angesichts dessen von jeher die weisesten Männer aufgeben mussten, & mir dabei im Vergleich meine maßlose Unwissenheit vor Augen geführt.
In Reggio angelangt, begaben wir uns allsobald mit Pater Angelucci in jenen Leuchtturm, von dem er die Fata Morgana erblickt hatte. Er bestätigte uns seinen Brief in jedem einzelnen Punkte, & wir sahen in ihm einen geistig vollkommen gesunden, wenn auch vielleicht etwas bäurischen Mann vor uns. Kircher erläuterte ihm die Wirkgrößen des Schauspiels, dem er beigewohnt hatte, doch der Pater mochte zwar aus Höflichkeit so tun, als heiße er diese Erklärungen gut, dennoch sahen wir ihm an, dass er kein Wort davon glaubte & das Wunder bei weitem der Physik vorzog.
Während der Woche, die wir in dieser Stadt verblieben, kehrten wir tagtäglich an das Fenster des Leuchtturms zurück, ohne dass uns eine ebensolche Luftspiegelung erschienen wäre. Nun wäre es in der Tat doch sehr ungerecht gewesen, wenn ein Vorzug, der unserem Gastgeber erst nach sechsundzwanzig Jahren Wartens zuteilgeworden war, uns mit so wenig Mühen geschenkt worden wäre. Da sich von diesem Ausguck aus eine ganz reizende Meereslandschaft darbot, war der Aufenthalt dennoch Anlass zu allerlei angenehmen Konversationen.
Von Reggio aus begaben wir uns ohne weiteren Aufenthalt übers Meer zum Hafen von Valletta, indem wir die Küsten Siziliens umschifften. Gemeinsam mit Friedrich von Hessen nahmen wir im Palast der Ordensritter Quartier. Das Piratenunwesen im Tyrrhenischen Meer beunruhigte die maltesische Inselregierung höchlich, & es herrschte einige Aufregung. Doch Kircher war für all das unempfänglich und begab sich sogleich auf eine Erkundung der Insel, während deren er sich den vorgesehenen Observationen widmete. Er studierte die Pflanzen- und Tierwelt & sammelte ohn Unterlass geologische Proben ein. Auf den Fingerzeig eines der Ordensritter hin begaben wir uns an die östliche Küste der Insel, um eine Klippe zu betrachten, der die Natur die Form eines riesenhaften menschlichen Antlitzes gegeben hatte.
Es war dies ein weibliches Gesicht, das uns beide durch seine Schönheit faszinierte. Dass die Natur derlei Wunder hervorzubringen in der Lage war, wusste ich
per definitionem
, doch war es etwas ganz anderes, das Produkt solch wundersamer Kunst
de visu
in Augenschein zu nehmen. Kircher rannte hin und her, um verschiedene Standpunkte zu vergleichen, er raffte seine Robe, um leichter auf den Felsen umherzuklettern. Dann wies er mich darauf hin, dass das Gesicht nur von einem ganz bestimmten Orte aus zu sehen sei, & wenn man diesen verlasse und den Blickwinkel auch nur ein klein wenig verändere, dann verschwinde es und verschmelze erneut mit dem gestaltlosen Gestein. Er sprach zu sich selbst, stieß Rufe aus, lachte beseligt, ergriffen von einem jener Räusche, wie ich sie von ihm kannte, jedes Mal, wenn er etwas ganz und gar Neues entdeckte.
»Jesus Maria! Und das nur wenige Meilen von Afrika und Ägypten entfernt! Das ist der Beweis … Sämtliche Pharaonen und ihre Gemahlinnen in dieser emblematischen Figur!
Natura
Weitere Kostenlose Bücher