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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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überzeugte Antipapisten wollten Wallin und Scheffer natürlich Gustav Adolf rehabilitieren und mit ihm den Protestantismus insgesamt; mit ihren Vorwürfen standen sie ja durchaus nicht allein, was doch starke Zweifel an der Kompetenz des Jesuiten Kircher aufwarf. Umso mehr, als sein Versuch, die Hieroglyphen zu entziffern, bis heute unwidersprochen als großartiges Fiasko endete.
    Wie konnte jemand nur so verblendet sein, fragte sich Eléazard. Er hätte nicht erklären können, wie er zu dieser Überzeugung kam, aber insgeheim fand er, Athanasius Kircher könne nicht wider jedes bessere Wissen gelogen haben. Zwar mochte man ihm vorwerfen, dass er die Gegenreform mit einer frommen Lüge stützen wollte, doch bei den ägyptischen Hieroglyphen funktionierte das nicht mehr. Dieser Mann musste – durch Autosuggestion, durch Wahn? – selbst von seinen Fähigkeiten überzeugt gewesen sein, oder aber er hatte Machiavellismus und Ruhmsucht bis ins Monströse getrieben.
    Eléazard bearbeitete seine Anmerkung zum »magischen« Säbel, dann fuhr er mit Entzifferung und Neuformatierung des Manuskripts fort. Dann und wann jedoch konnte er sich nicht beherrschen und ging einen Blick aus dem Fenster werfen, mit einer Zigarette als Vorwand.
    Gegen zehn Uhr kam Soledade vom Einkaufen und brachte die Post und die Zeitungen mit, die sie beim Frühschiff abgeholt hatte. Überall dieselben Berichte von Morden und Überfällen allerorten in den Großstädten, das ganze üppig mit einer Sauce von Artikeln über Fußball, Starlets, Prominentenauftrieb in der Provinz und prahlende Minister übergossen. Auf allen Titelseiten Berichte und Fotos vom Absturz eines Flugzeugs der VASP in den Bergen bei Fortaleza.
Nada restou!
»Nichts mehr übrig!«, so fasste eine dieser Headlines das Ereignis treffend zusammen. »Hundertfünfunddreißig Tote, dazu zwei Babys«, lautete eine andere, unfreiwillig zynische, als nähme die Unmöglichkeit, das Leid des Erwachsenendaseins erlebt zu haben, einem auch das Recht, zu den Toten gezählt zu werden. Danach dann die üblichen Fotos, um den Blutdurst der Zuschauer zu stillen, und die Beschreibung der Plünderungen, die den Helfern zuvorgekommen waren, sowie postume Lobreden auf die Besatzung.
    Diese Plünderung erregte Eléazards Aufmerksamkeit besonders: Wieder ein Symptom in der langen Liste, die er sorgfältig aktualisierte. Vor zwei Monaten hatten mehrere hundert junge Leute, Slumbewohner aus den Favelas von Rio, den berühmten Copacabana-Strand überrannt und derart gründlich abgeräumt, dass die Sonnenanbeter buchstäblich nackt zurückblieben und die Räuberhorde den Spitznamen
grilos
, Heuschrecken, erhalten hatte. Überall im Lande schlossen sich Banden zusammen, um Banken und Supermärkte, Hotels und sogar Restaurants auszurauben. Die Insassen der baufälligen, überfüllten Gefängnisse revoltierten derart zahlreich, dass die Polizei mittlerweile einfach das Feuer eröffnete. Nach jedem dieser Vorfälle blieben Dutzende Tote zurück. Die Korruption regierte mit, bis in die höchsten Staatsämter, und während der Großteil der Bevölkerung von Tag zu Tag weiter verarmte und sich dem besorgniserregenden Aufflackern von Lepra, Cholera und Beulenpest ausgesetzt sah, verfolgte eine hauchdünne Schicht von Neureichen genüsslich, wie der Stand ihrer Konten bei den Banken von Miami zusehends stieg. Wie es den Weißen Zwergen im Weltall ging, so drohte auch Brasilien zu implodieren.
    Jeden Tag gab Eléazard diese vernichtende Diagnose aufs Neue seiner Presseagentur durch, aber die Alte Welt war zu sehr mit den Anzeichen ihres eigenen Zerfalls beschäftigt, um Mitleid mit dem Elend eines Volkes zu empfinden, das weder durch Verkehrsmittel noch durch die Medien näher an Europa herangerückt war. Ohne von Natur aus pessimistisch zu sein, blickte Eléazard allmählich voller Skepsis in die Zukunft Europas. Nach verschiedentlichen ethnischen Zwisten hatte der Erdteil sich dergestalt verflüchtigt, dass es wirkte wie zu den blutigen Zeiten des Dreißigjährigen Krieges. Oder sogar noch schlimmer, denn in den religiösen Streitigkeiten standen sich nicht mehr nur Katholiken und Protestanten gegenüber. Zwar mochten die gegenwärtigen Wirrnisse auf eine bevorstehende radikale Umgestaltung des Okzidents hindeuten, doch gab die aktuelle Entwicklung wenig Anlass zur Hoffnung.
    Eléazard war missmutig. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und wollte sich eben seiner Post widmen, da ließ eine Stimme ihn

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