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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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den Ernst, mit dem sein Gegenüber ihm all das erklärte.
    »Es ist noch viel komplizierter, als du denkst. Ich überspringe die Details. Nach den Zahlen, die du geworfen hast, besteht dein Hexagramm aus drei ›jungen‹ Strichen, die ich also in ihr Gegenteil verwandle, und das ergibt …« Sie schlug das Büchlein auf und suchte die erste der beiden Figuren heraus: »Ah, da ist es …
44 . Zeichen: Gou
, das Entgegenkommen.
Unten: Sun, das Sanfte, der Wind; oben: Kiën, das Schöpferische, der Himmel. Das Entgegenkommen. Das Mädchen ist mächtig. Man soll ein solches Mädchen nicht heiraten.
«
    »Na so was!« Eléazard war tatsächlich überrascht.
    »Ich erfinde das nicht, du kannst es nachlesen. Mit anderen Worten bedeutet es, dir begegnet etwas erneut, das du aus deinen Gedanken verbannt hattest. Das bedeutet eine extreme Überraschung …« Schweigend, nachdenklich las Loredana weiter, dann sagte sie. »Unglaublich, das Ding! Hör dir das an:
Die Begegnung ist ein Angriff, das Biegsame erobert das Starre auf Anhieb. ›Heirate die Frau nicht‹ bedeutet, eine auf Dauer angelegte Verbindung wäre zum Scheitern verurteilt …
«
    »Nicht gerade ermutigend, würde ich sagen«, meinte Eléazard verdrossen.
    »Warte, das ist nur der allgemeine Sinn des Hexagramms. Jetzt müssen wir die wandelbaren Striche deuten und ihre Bedeutung mit der des zweiten Hexagramms vergleichen. Erst dann zeichnet sich die tatsächliche Aussage ab. Und das erste bedeutet … Momentchen. Ja:
Im Behälter ist ein Fisch. Kein Makel! Nicht fördernd für Gäste.
«
    »Soll ich dieser Fisch sein?«
    »Warte, ich sag dir’s. Für das zweite Hexagramm steht da:
Mit Weidenblättern bedeckte Melone: verborgene Linien. Da fällt es einem vom Himmel herunter zu.
«
    »Ah, das musst du sein! Ein Engel, vom Himmel gekommen …«
    »Und das dritte«, fuhr Loredana fort wie zur Antwort auf Eléazards neckenden Kommentar, »sagt:
Er kommt mit seinen Hörnern entgegen. Beschämung. Kein Makel.
«
    »Wenn das heißen soll, dass ich in meiner Ehe Probleme hatte, danke, das ist mir bekannt …«
    Loredana schüttelte betrübt den Kopf.
    »Wir können gern aufhören, wenn es dich nervt. Ich habe keine Lust, meine Zeit zu vergeuden.«
    »Nein bitte, mach weiter. Ich lass das auch, versprochen.«
    Sie blätterte kurz in dem Büchlein, bis sie das zweite Hexagramm gefunden hatte.
    »Das ist das 62 . Zeichen,
Siao Go
, Des Kleinen Übergewicht …
Unten: Gen, das Stillehalten, der Berg, oben: Dschen, das Erregende, der Donner. Der fliegende Vogel bringt die Botschaft. Er lässt seinen Ruf zurück. Es ist nicht gut, nach oben zu streben, es ist gut, unten zu bleiben. Großes Heil!
«
    »Er lässt seinen Ruf zurück …«, wiederholte Eléazard, beeindruckt von der plötzlichen Poesie des Bildes.
    »Das bedeutet, du bist zu exzessiv, sogar bei weniger wichtigen Dingen.
Der Vogel soll sich nicht überheben und in die Sonne fliegen wollen, sondern sich herablassen auf die Erde, wo sein Nest ist. Damit gibt er die Botschaft, die das Zeichen verkündet.
«
    Schweigend las Loredana weiter. Der Edle, so hieß es im Text weiter, lege das Übergewicht auf die Ehrerbietung, bei Trauerfällen lege er das Übergewicht auf die Trauer … Dies war eines der seltsamsten
I Gings
, eines der explizitesten, und sie hatte es noch nie für jemanden ausgelegt. Wahrscheinlich lag das daran, dass die Frage sie mit betraf. Ihr war sonnenklar, dass die Begegnung mit Eléazard ganz bestimmte Grenzen nicht überschreiten würde, die von ihren Ängsten gesetzt waren, selbst wenn diese übertrieben sein sollten. Irgendwie ließ sich also diese Antwort auch auf sie selbst beziehen … Unvermittelt beschloss sie, ihn in die Enge zu treiben:
    »Um wen trauerst du, oder worum?«, fragte sie jäh, wissend, dass diese unerwartete Frage ihn aus der Fassung bringen dürfte.
    Eléazard bekam eine Gänsehaut. Er war damit beschäftigt, die letzte Metapher auf sein Verhalten zu Elaine anzuwenden, sie auf gut Glück auf die tausendundeine Facetten seiner Verlassenheit zu beziehen, und mit einem einzigen Wort traf diese ihm doch eigentlich Unbekannte mitten ins Schwarze.
    »Du bist erstaunlich!«, sagte er voll ehrlicher Bewunderung.
    Er dachte: ›Ich traure um meine Liebe, um meine Jugend, über eine verkehrte Welt. Ich traure um der Trauer selbst willen, wegen ihres Zwielichts und der einlullenden Lauheit ihres Lamentos …‹ Aber er sagte:
    »Ich traure um das, was nicht hat geboren

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