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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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reichlich begossenen Mahlzeit im
Beira Rio
waren sie sang- und klanglos an Bord gegangen und hatten den Anker gelichtet. Das Steuer überließ Petersen Yurupig, dem Indianer, der als Mechaniker, Wachmann und Koch an Bord lebte; er selbst hatte sich auf eine der Bänke in der Offiziersmesse fallen lassen und schnarchte dort seit Stunden laut und vernehmlich. Milton tat desgleichen in seiner Kajüte; auf die Reling gestützt, erörterten Detlef und Mauro irgendein paläontologisches Detail, das ihre Aufmerksamkeit restlos zu beanspruchen schien.
    Flach auf dem Bauch auf dem warmen Dach des Kanonenboots liegend, vom Fluss gefangengenommen und wie hypnotisiert vom unergründlichen Labyrinth seiner Seitenarme und Kanäle, gab Elaine sich wohliger Schläfrigkeit hin. Angesichts des flach und friedlich daliegenden Pantanal – gestern Abend aber hatte Petersen ihr erzählt, Wind und Flut könnten auf dieser wie gelackten Fläche enorme Wellen zusammenschieben – hielt sie spielerisch einzelne Bilder des wuchernden Dschungels fest wie mit einem Fotoapparat. Rot wie Blutspritzer ein fliegendes Papageienpaar, das gespreizte Gefieder eines Silberreihers weit oben im Wipfel eines Baums, das zahnlose Lächeln eines Kindes, das hinter seinem Vater in einer am Ufer entlanggleitenden Piroge hockte, ein unerklärlicher Wirbel, der reglose Strudel gelben Schlamms mitten im Fluss … Jedes Mal machte sie mit dem Mund das Geräusch des Auslösers, jedes Mal nur zu froh, dass sie nicht daran gedacht hatte, ihre Kamera mitzunehmen: denn eine Sekunde später ließen die Papageien in einer Kakophonie von Grellgrün und Gekreisch einen Schwarm Kakadus auseinanderstieben; der Silberreiher breitete unvermittelt die Flügel aus wie wehende Segel und ließ einen langen Schrei hören, den Hals starr gen Sonne gereckt; das Lächeln des Kindes erlosch; fiebrigen Blicks hielt der Vater im Rudern inne, als er sie sah; das Kielwasser des Schiffes legte das krallige Skelett eines Baumstrunkes bloß, der bislang auf seiner Reise nach Süden hier pausiert hatte … Auch ein Fotoapparat hätte diese freien Bilder des Rio Paraguay verfälscht, nämlich aus dem Zusammenhang des Gesamtpanoramas gerissen. Eléazard wäre ganz einverstanden, dachte sie, der rühmt sich doch, dass er nie etwas auf Film bannt.
    Mit geschlossenen Augen ließ Elaine sich vom Klopfen des Motors einlullen. Plötzlich war das unbezwingbar angeödete Gefühl wieder da, das sie eines Tages von Eléazard fortgetrieben hatte. Einen eigentlichen Anlass hatte diese Trennung nicht gehabt, sie war nichts als ein Überlebensreflex, dank dessen sie vor einem Mann geflohen war, der sich mit seinem Zynismus langsam selbst zugrunde richtete. Eléazard litt an übertriebener Hellsicht der Dinge und Wesen. Sie nahm es ihm übel, dass er an nichts mehr glauben wollte, nicht einmal an seine eigenen Fähigkeiten. Seine Arbeit über Kircher war hoffnungslos verfahren, seine Lust, etwas anderes zu schreiben als dämliche Agenturberichte, seit langem verdorrt, und wenn er sich überhaupt noch für die Welt zu interessieren schien, dann nur, um sie für ihre Unvollkommenheiten zu tadeln. Wie oft hatte er sich über ihren Wunsch lustig gemacht, die Welt zu begreifen, ihre Regeln und Funktionsweisen zu ergründen? Sie hatte ihn immer noch im Ohr: »Die Wissenschaft ist letztlich nur eine Ideologie wie alle anderen, weder effizienter noch weniger effizient als die übrigen. Sie agiert zwar auf anderen Gebieten als Religion oder Politik, geht aber ebenso weit an der Wirklichkeit vorbei. Einen Missionar nach China entsenden oder einen Astronauten auf den Mond, das ist haargenau dasselbe: Es entspringt ein und demselben Willen, die Welt in den Griff zu bekommen, sie in die Grenzen einer Lehrmeinung zu zwängen, die sich jedes Mal als einzig wahr hinstellt. So unwahrscheinlich es ist, gelangte Franz Xaver nach China und bekehrte Tausende Chinesen, und der Amerikaner Armstrong – ein Militär, nebenbei bemerkt, wenn du verstehst, was ich meine … – tritt den alten Mythos vom Mond mit den Füßen, aber was sagen uns diese Taten, das über sie selbst hinausreichen würde? Nichts haben sie uns zu sagen, denn sie begnügen sich damit, uns etwas einzutrichtern, was wir bereits wussten, nämlich dass die Chinesen
bekehrbar
sind und der Mond
begehbar
ist … Beides sind nichts als gleichwertige Beispiele für die Selbstgerechtigkeit der Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte.«
    Eines Tages

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