Wo Tiger zu Hause sind
hatte sie es nicht mehr ausgehalten, dass es keine Gewissheiten geben sollte, sondern nur Eléazards Lesarten. Alcântara war ihr als exaktes Spiegelbild ihres Mannes erschienen: ein Haufen ansteckend schwermütiger Ruinen, die sie schnellstmöglich hinter sich lassen musste. Eléazards morbide Faszination für Kircher, diesen jämmerlichen Versager, erschien ihr als eine schwere Bedrohung ihrer selbst. Davor war sie geflohen, vor dieser heimtückischen Einsamkeit. Sich gleich scheiden zu lassen, mochte übertrieben gewesen sein, war aber unabdingbar, um sich aus dem Bann zu befreien, dessen Gefangene sie war, um endlich allein zu sein, im Einklang mit sich selbst und mit einer ganz selbstverständlichen Lebensfreude.
Jäh setzte der Motorenlärm aus. Das Schiff trieb still weiter, und Elaine konnte den vielstimmigen Urwald hören. Von ihrem Beobachtungsposten aus sah sie, wie Yurupig nach hinten ging und mit einem Ruck die Ankerkette löste, deren Rasseln kurz das Geschnatter der Affen am Ufer zum Verstummen brachte. Mit Eimer und Binsenkorb tauchte Herman Petersen auf Deck auf.
»Was ist passiert?«, fragte Detlef besorgt. »Gibt es ein Problem mit dem Motor?«
»Keine Sorgen, Amigo! Es wird schnell dunkel, und in dieser Gegend sollten wir besser nicht nachts weiterfahren. Ein Stündchen könnten wir wohl noch, aber wer weiß, ob wir dann einen Ankerplatz finden. Außerdem ist das hier die beste Stelle für
dourados
am ganzen Fluss.«
»Und was ist das,
dourados
?«, fragte Mauro.
»Salminus brevidens«
, antwortete Detlef wie aus der Pistole geschossen, als verstünde so ein Wissen sich von selbst, »eine Art Goldlachse, die bis zu zwanzig Kilo schwer werden können. Ich hab das voriges Jahr gegessen, schmeckt wunderbar.«
»Also, an die Arbeit!« Herman holte mehrere Angelleinen aus seinem Korb. »Wenn ihr ein schönes Abendessen wollt, dann zeigt mal, was ihr könnt.«
»Kann ich auch mal versuchen?«, fragte Elaine von ihrem Aussichtspunkt herab.
»Aber natürlich, Senhora. Ich hab mich schon gefragt, wo Sie stecken.«
»Ich sage es besser gleich«, meinte sie und ging zu ihm hin, »ich habe noch nie geangelt.«
»Zum Anfangen ist es nie zu spät«, grinste Herman, »es ist ganz leicht, ich zeig’s Ihnen. Das hier sind die Köder«, er deutete in den Eimer. »
Piramboias
, es gibt nichts Besseres!«
Elaine schaute hinein und wich zurück, als sie das schleimige Gewimmel kurzer, gedrungener Lebewesen am Grunde des Eimers sah.
»Schlangen?«, fragte sie angewidert.
»Beinahe. Aber bloß nicht reinfassen!«, warnte er, umwickelte sich die Hand mit einem Lumpen und griff einen der Aale.
Mit einem Messerhieb schnitt er ihn in der Mitte durch und spießte eine der zappelnden Hälften auf einen Haken. Er warf den Köder ins Wasser, nur wenige Meter vom Bord entfernt, und hielt Elaine die Schnur hin.
»Hier. Jetzt noch ein bisschen Geduld. Wenn was anbeißt, ziehen Sie, mehr ist nicht zu tun.«
»Lebt das da noch lange weiter?« Sie deutete mit dem Kinn auf die blutige Pfütze, wo der
piramboia
-Schwanz sich weiter wand.
»Stundenlang. Nicht kaputt zu kriegen, das ist ja das Gute. Und kein Fisch kann diesem Schwanz widerstehen. Vor allem die Weibchen nicht …«
Mit einem anzüglichen Unterton hatte er das gesagt und Elaine dabei aus seinen stumpfen, wässrigen Augen angesehen. Sie tat so, als hätte sie es nicht bemerkt, und wandte den Blick zum Fluss.
»Und du, Mauro? Lust?«
»Warum nicht … Ich will schließlich nicht dumm sterben.«
»Da hast du recht, Junge! Ich hingegen bleibe lieber dumm und sterbe nie. Hier, deine Leine.«
Und sie angelten zu dritt, da Detlef Petersens Einladung ausschlug.
Sie mussten nur wenige Minuten warten. Bei Elaine setzte es einen jähen Hieb, aber als sie die Leine einholte, war sie leer, und nicht nur das, sie war kurz oberhalb des Hakens gekappt. Und fast gleichzeitig ereignete sich dasselbe bei Herman und Mauro.
»Verflucht!«, schimpfte Petersen. »Piranhas … Wir können’s vergessen, Kinder. Wenn die da sind, sind alle anderen weg. Zu gefräßig, die Scheißviecher … Obwohl, Moment mal, wenn das so ist, dann fangen wir ein paar für die Suppe. Ich nehme Vorfächer aus Stahldraht, da können sie sich die Zähne dran ausbeißen …«
Elaine bekam als Erste eine derart präparierte Leine und hatte fast sofort einen Biss. Sie hatte zu kämpfen, die Leine war zum Zerreißen gespannt und durchschnitt das gelbe Wasser zuckend in alle Richtungen.
»Na
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