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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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meine eigenen Veränderungen zu beobachten: Als Junge habe ich diese Einrichtung geliebt, sie idealisiert, ja zum Maßstab der Ästhetik gemacht; als ich größer wurde, sind mir die Augen aufgegangen, wie trist sie in Wahrheit ist, ich hasste sie als Inbild des schlechten Geschmacks – und verfluchte dabei natürlich nur die Tatsache, dass ich erwachsen wurde … –, und dann eines Tages habe ich zu beurteilen aufgehört, so dass diese Hässlichkeit mir vertraut geworden ist, ja kostbar, und heute, wo sie sich mit dem Rest der Welt in Nebel auflöst, ist sie mir unverzichtbar …«
    Die Mutter von Doktor da Cunha war eine sehr alte, kleine gebeugte Dame, trocken und brüchig wie ein Baum des Sertão. Stets war sie es, die Eléazard empfing, ihn mit ein paar liebenswürdigen Worten bat, im Vestibül Platz zu nehmen, und darauf bestand, dass er einen Tamarindensaft trinkt, denn nur so war den Gesetzen der Gastfreundschaft Genüge getan. Sodann geleitete sie ihn in die Bibliothek, bevor sie in der sich verdichtenden Dunkelheit eines Korridors verschwand. Soweit Eléazard wusste, bewohnte sie das Haus völlig allein mit ihrem Sohn, den sie mit der Hingabe einer Ordensfrau für einen heiligen Mann betreute.
    Da er jetzt nebenan ein zögerndes Gläserklirren hörte, stand Eléazard auf, um seinem Gastgeber entgegenzugehen.
    »Das ist freundlich, danke«, sagte Euclides und überließ Eléazard das Tablett. »Ich war etwas langsam, aber meine Mutter bestand darauf, dass Sie ihre
Engelsseufzer
kosten. Das ist eine Ehre, die mir durchaus nicht alle Tage zuteilwird!«
    Sie gingen zum Sofa.
    »Ach ja«, meinte Euclides, »während Sie uns bedienen, spiele ich Ihnen etwas Kleines vor, vor ein paar Tagen habe ich die Noten bekommen. Vielleicht erraten Sie ja den Komponisten …«
    »Den Komponisten?«, fragte Eléazard, während sein Freund langsam zum Flügel hinüberging.
    »Den erraten Sie sowieso nicht«, lachte er. »Aber egal,
falls
Sie ihn erraten, gebe ich Ihnen einen interessanten kleinen Tipp. Ja, einen wirklich sehr interessanten …«
    Ohne noch weiter zu warten, öffnete er die Klappe des alten Kriegelsteins und begann zu spielen.
    Sofort war Eléazard vom eigenartigen Rhythmus der Linken in den tiefen Tönen überrascht, er war zerhackt, repetitiv. Als die Melodie sich diesem sehr besonderen Bass zugesellte, erkannte er ziemlich bald den für den Tango typischen Hüftschwung, allerdings war es ein versetzter, retardierender, geradezu parodistischer Tango in seiner Art, die Verzögerung auszudehnen und den synkopierten Atem der Musik zu übertreiben.
Eins, zwei, drei, Ertrinken im – Entzücken, zwei, drei, vier, mit angehalt–ner Luft …
Die Worte stiegen empor, explodierten auf seinen Lippen wie Bläschen.
Herz so eng, Tristesse schwer und Überdruss …
Euclides an seinem Klavier, als regelte er den langsamen Lauf der Gestirne, mäßigte sie, organisierte sie für andere Erfordernisse.
    Euclides war zwar nicht unbedingt ein Virtuose, spielte aber etwas besser als der durchschnittliche Amateur – Eléazard hatte ihn schon mehrfach gehört, wie er sehr anständig die schwierigsten Stücke aus dem
Wohltemperierten Klavier
oder manche durchaus ebenso anspruchsvolle Sonaten von Heitor Villa-Lobos spielte –, doch war dies das erste Mal, dass er eine solche Fähigkeit an den Tag legte, die geheime Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen. Die Welt war in der Finsternis furchteinflößender Zwischentöne verschwunden. Als das Stück mit einem trockenen, nur ganz kurz ausgehaltenen Akkord endete, empfand Eléazard jene jähe Desorientiertheit, die einen bisweilen beim Aufwachen befällt, wenn man nach der ersten Nacht in einem Zimmer auf der Durchreise zu sich kommt.
    »Na?« Euclides setzte sich neben ihn.
    »Ich muss passen, wie vorhergesehen. Es ist aber sehr schön, wirklich sehr schön …«
    »Strawinsky, Opus  26  … Es gibt ein paar kleine Stücke dieser Art, sie sind nicht einzuordnen, wie jedes Meisterwerk, das sich allen Begriffen entzieht. Ein anderes Mal spiele ich Ihnen vor, was Albéniz oder Ginastera in demselben Register geleistet haben. Probieren Sie doch«, sagte er und hielt Eléazard den Teller mit den kleinen Gebäckstücken hin, den er mitgebracht hatte. »Das ist etwas sehr Besonderes, zwischen Hostie und Baiser, aber mit Orangenblütenwasser aromatisiert. Sie sind fast so köstlich, wie ihr Name bezaubernd ist …« Und dann, übergangslos: »Aber ich will mal nicht so

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