Wo Tiger zu Hause sind
wenig ethnologische Feldforschung, mehr nicht. Vertrauen Sie meiner Erfahrung, ich bin überzeugt, Sie werden es nicht bereuen; das ist ein sehr aufschlussreiches Milieu, zumal für einen Journalisten. Und wenn es Ihnen nicht genügt, dass ich dabei bin, bringen Sie ruhig Ihre hübsche Italienerin mit, dann lerne ich sie wenigstens bei dieser Gelegenheit kennen …«
Eléazard sah zu, wie der Doktor seinen Kneifer von der Nase nahm und ihn sorgsam mit einem makellos sauberen Taschentuch putzte. Seine mandelgrünen Augen wirkten auf einmal zutiefst menschlich ohne die dicken Gläser, die sie sonst ins Maßlose, Groteske vergrößerten, wie bei manchen Scherzartikelbrillen. Sie sahen lachlustig aus, nichts verriet die drohende Verdunkelung, die Amaurose –
Ama und Rose, hübsche Wörter für einen verkümmernden Sehnerv, was!
–, die sie demnächst zum Erlöschen bringen würden. Euclides kämmte sich stets nur mit der Hand; sein bürstenkurz geschnittenes, dichtes, ungebändigtes Haar stand in alle Richtungen ab, wie unablässig von unsichtbaren Windstößen zerwuschelt. Seine perfekt gerade Nase bildete einen Kontrast zu dem buschigen Schnurr- und Kinnbart, beide vom Teer seiner ägyptischen Zigaretten vergilbt; die Borsten wölbten sich über seine Lippen und bewegten sich mechanisch, wenn er sprach, wie bei einer Marionette. Er war füllig, ohne dick zu sein, und trug stets dunkle, maßgeschneiderte Anzüge, dazu ein gestärktes weißes Hemd und eine Art Fliege mit vier Enden; Eléazard fragte sich immer, wo man ein so altertümliches Stück wohl herbekam. Die einzige Extravaganz seiner Kleidung bestand in seinen Westen, von denen er eine beeindruckende Sammlung besaß; luxuriöse Accessoires mit Seiden- oder Goldfadenstickereien, mit Knöpfen aus Perlmutt oder Marquasit, manche waren sogar Miniatur-Emailen. Ansonsten war er von der Biederkeit eines Flaubert – jener zumindest, die dessen Anhänger ihm zuschreiben –, dazu mit Seelenruhe und unverbrüchlicher Höflichkeit begabt. Seine Bildung schließlich war faszinierend, so enzyklopädisch wie klarsichtig.
»Seien Sie einfach meine Augen.« Er ließ nicht locker und setzte sich den Kneifer wieder in die rosige Kerbe, die er in seinen Nasenrücken gedrückt hatte. »Die jungen Augen eines alternden Milton, auf den Niedergang dieser Welt gerichtet.
Der Verlust des Augenlichts; schlimmer noch als Ketten, Kerker, Armut oder Gebrechlichkeit des Alters …
«, zitierte er in perfektem Englisch. »
Totes, begrabenes Leben, so bin ich selbst mein Grab …
Oder jedenfalls etwas in der Art, nicht wahr … Der Vergleich mit einem so großen Dichter magt Ihnen anmaßend erscheinen, doch teile ich immerhin dieselbe Krankheit mit ihm, das ist nicht wenig, da werden Sie mir zustimmen!«
»Apropos«, Eléazard musste über die kokette Bemerkung doch lächeln, »wie steht es um Ihre Augen?«
»Gut, keine Sorge. Noch kann ich mehr oder weniger korrekt lesen, das ist das Einzige, das zählt. Ich fürchte nicht die Dunkelheit …« Er konzentrierte sich kurz mit geschlossenen Augen, dann deutete er auf die Bücherregale, die zwei der großen Wände des Raumes bedeckten: »Sondern das Schweigen, ihr Schweigen … das könnte ich nicht ertragen.« Er lachte kurz und halblaut. »Zum Glück habe ich den Glauben verloren, sonst erschiene es mir am Ende noch wie eine Strafe des alten Bärtigen für meine Taten … Das wäre tatsächlich die Hölle, finden Sie nicht!«
Eléazard konnte sich schwerlich vorstellen, dass Doktor da Cunha einst Jesuit gewesen war, nicht einmal in seiner Jugend, so wenig wollte der lachende Mann da vor ihm zum Bild passen, das man sich von einem Mann der Kirche machte. Freilich, er verfügte über eine Bibelkenntnis wie kein weltlicher Mensch und beherrschte Altgriechisch und Latein perfekt, aber das allein hätte ihn nicht von einem guten altsprachlichen Lehrer unterschieden.
»Irgendwann«, sagte Eléazard, »müssen Sie mir doch mal erklären, warum Sie die Profession gewechselt haben …« Dann aber fand er das Wort unpassend und wollte sich korrigieren: »Also, ich meine …«
»Nein, nein, das ist absolut richtig gesagt«, unterbrach ihn Euclides, »die ›Profession‹ … Das einzige Wort, das sowohl die Gelübde und den Glauben trifft – zum Beispiel den eines gewissen savoyardischen Vikars, wenn Sie verstehen, was ich meine – als auch die Beschäftigung selbst, denn die ist oft genug eher ein wahrer Beruf als nur ein
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