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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Zustand.« Er nahm behutsam eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an: »Und habe ich sie tatsächlich so restlos gewechselt?«, fragte er in ernsthaftem Tonfall. »Diese Frage stelle ich mir immer noch … Kennen Sie den Begriff der französischen Jesuiten für einen, der vom Orden abgefallen ist? Sie sagen, er hat sich zum ›Satelliten‹ gemacht, und damit meinen sie, er kreist immer noch um die Societas herum, auf einem Orbit, auf dem Flieh- und Anziehungskraft sich die Waage halten, und dieser Umlaufbahn kann er nie entkommen. Man verlässt die Societas nicht, man entfernt sich mehr oder weniger weit von ihr, hört aber im Grunde nie auf, ihr anzugehören. Und ich muss zugeben, dass diese Sicht der Dinge etwas Wahres an sich hat. Man kann der Sklaverei entrinnen, auch wenn das schwerfällt, doch niemals langen Jahren der Domestizierung, denn genau darum handelt es sich, um eine systematische Dressur von Körper und Geist, die ein einziges Ziel verfolgt, den Gehorsam. Kann es da einen echten ›Ungehorsam‹ geben? Unter solchen Umständen hat dieses Wort nicht mehr viel Sinn, es drückt vielleicht eine vorübergehende Ablehnung des Gesetzes aus, eine zwar verurteilenswerte Parenthese, doch bleibt der Betreffende immer in den Rahmen des Gehorsams rückführbar. Und wenn Sie ein wenig nachdenken, werden Sie bemerken, dass es eigentlich für alle ganz ähnlich ist … Eine Regel zu überschreiten oder sogar alle Regeln, das bedeutet immer, neue Regeln zu wählen und so in den Schoß der Obedienz zurückzukehren. Man hat den Eindruck, man würde sein Wesen tiefgreifend ändern, würde die Freiheit wählen, dabei hat man nur einen neuen Meister gewählt. Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, verstehen Sie …«
    »Manche Meister verlangen mehr als andere, oder?«
    »Da pflichte ich Ihnen bei, mein lieber Freund, und ich bereue die zu einem bestimmten Moment meines Lebens getroffene Entscheidung keineswegs. Ich befinde mich damit in jeder Hinsicht besser, seien Sie gewiss. Es mag allerdings zwar einfacher sein, Gesetzen zu gehorchen, die man frei gewählt hat – und allein schon die Möglichkeit zu einer solchen Wahl ist weit weniger selbstverständlich, als es den Anschein hat! –, dennoch bedingen sie eine Unterordnung, eine umso gefährlichere Fügsamkeit, als diese weniger Zwang mit sich zu bringen scheint. Es war La Boétie, so glaube ich – nein, ich bin mir sicher …«, korrigierte er sich mit einem Zwinkern zu Eléazard, »der von ›freiwilliger Knechtschaft‹ sprach, um die Tatenlosigkeit der Völker angesichts der Tyrannei des Einzelnen zu geißeln. Doch in seinem Plädoyer für die Freiheit unterschied er
dienen
und
gehorchen
, also in seiner Systematik zwischen der verurteilungswürdigen Unterwerfung eines Knechts unter seinen Herrn und dem Gehorsam eines freien Mannes gegenüber einer gerechten Regierung. Eine Unterscheidung, die ich für meine Person nicht nachvollziehen mag, trotz meiner Sympathie für diesen jungen Mann … Selbst wenn er auf freien Willen gründet, ja, vielleicht sogar umso mehr gerade wegen dieser Illusion von Freiheit, bleibt jeder Gehorsam doch servil, erniedrigend, und, in meinen Augen noch wichtiger: fruchtlos. Ja, fruchtlos … Je älter ich werde, desto überzeugter bin ich, dass die Revolte der einzig wirkliche Akt der Freiheit und darum auch der Poesie ist. Nur die Grenzüberschreitung bringt die Welt voran, denn sie und nur sie allein gebiert Poeten, schöpferische Menschen, diese bösen Buben, die sich weigern, einem Codex zu gehorchen, einem Staat, einer Ideologie, einer Technik, was weiß ich … all dem, das sich irgendwann als das Feinste des Feinsten hinstellt, als die größte und unanfechtbarste Errungenschaft einer Epoche.«
    Euclides nahm einen langen Zug aus seine Zigarette, dann sprach er weiter, umgeben von einer Wolke des unverkennbar nach Honig und Nelken duftenden Rauchs:
    »Wenn es ein Konzept gegeben hat, das wir ein wenig genauer hätten analysieren sollen, bevor wir es so erleichtert und hastig über Bord warfen, dann ist es wahrlich das der ›permanenten Revolution‹. Ein Begriff, den ich lieber durch ›Kritik‹ oder ›permanente Rebellion‹ ersetzen würde, schließlich bedeutet ›Revolution‹ in der Astronomie auch den Umlauf eines Himmelskörpers, und dieser kreisende Aspekt des Terminus will mir nicht gefallen.«
    Eléazard mochte den alten Arzt am allerliebsten in diesen Situationen, wenn er seinem

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