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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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oberflächlichen Anarchismus freien Lauf ließ. Die Unschuld, die Menschlichkeit, die geistige Unverbrauchtheit, die er darin erkannte, hätten jedem gut zu Gesicht gestanden, aber einen Mann dieses Alters zeichneten sie umso mehr aus.
    »Ich wusste gar nicht, dass Sie so maoistisch denken …«, sagte er scherzhaft. Dann, ernster: »Ich habe oft über dasselbe Problem nachgegrübelt, aber eine Idee, die Millionen Tote verursacht hat, ist und bleibt mir suspekt …«
    »Und genau da irren Sie sich!« Euclides tastete auf dem Tisch nach dem Aschenbecher. »Nicht die Ideen töten: sondern die Menschen, gewisse Menschen, die andere im Namen eines Ideals manipulieren, das sie selbst verraten, mal sehenden Auges, mal ohne es zu wissen. Jede Idee ist verbrecherisch ab dem Moment, wo sie als absolut hingestellt wird und für alle und jeden gelten soll. Allein das Christentum – und welche Idee könnte harmloser sein als die Nächstenliebe, was? –, das Christentum hat mehr Tote verursacht als viele andere auf den ersten Blick sehr viel suspektere Ideologien. Doch die Schuld daran liegt nicht beim Christentum, sondern bei den Christen, bei denen, die aus einer Herzenssehnsucht eine sektiererische Doktrin gemacht haben! Nein, mein lieber Freund, eine Idee allein hat noch nie irgendjemandem etwas zuleide getan. Nur die Wahrheit tötet! Und die mörderischste Wahrheit ist gewiss die, welche sich auf rechnerische Unfehlbarkeit stützt. Ab in die Mülltonnen mit Metaphysik und Politik, und freie Bahn für das szientistische Credo oder diese eitle, selbstzufriedene Hoffnungslosigkeit, mit der heute die übelste Standpunktlosigkeit legitimiert wird …«
    Jedes Mal, wenn sich Eléazard mit ihm unterhielt, gab es einen Moment, wo der alte Mann ihn bestürzte, weniger durch seine Argumente als durch die Überzeugtheit, mit der er sie vorbrachte. Ohne diese Weltsicht zu teilen, verspürte er dennoch immer wieder ihren Zauber, diese kalte, zähe Kraft.
    »Aber was bin ich bloß für ein unhöflicher alter Knacker!« Euclides stemmte sich mühsam aus seinem Sessel hoch, »ich hab ganz vergessen, uns einen kleinen Cognac einzuschenken! Entschuldigen Sie mich für zwei Minuten, dann mache ich dieses Versäumnis wieder gut!«
    Eléazard protestierte zwar, doch der Arzt ging in das Zimmer, wo sie zuvor gegessen hatten, und holte das Nötige. Während seiner Abwesenheit nahm die Bibliothek neue, bedrohliche Ausmaße an, als wollten all diese Bücher, all die in einem gemütlich-altmodischen Durcheinander befindlichen Gegenstände den Besucher geschwind daran erinnern, dass er ein Eindringling war. Die absichtsvoll durch die geschlossenen Läden herbeigeführte Dunkelheit, so kühl und angenehm, wenn sie Euclides’ langsamen Bewegungen diente, erschien ihm auf einmal aggressiv, unwirsch, von einer zerberushaften Laune, die die Einsamkeit des Hausherrn verteigten wollte.
    Euclides da Cunhas Haus, unfern der Igreja do Rosário in der Altstadt von São Luís gelegen, unterschied sich in nichts von den anderen etwas bröckelnden, Langeweile und Kellernässe schwitzenden Gebäuden, deren Kolonialstil der Rua do Egito ihr angewelktes Gepräge verliehen. Eléazard kannte nur das Vestibül, einen sehr langen Raum, der dank der großen Anzahl von an den Wänden aufgereihten Stühlen, jeder mit einem Häkeldeckchen auf der Lehne, wirkte wie ein Wartesaal; dazu die noch geräumigere, aber beengt wirkende Bibliothek – wegen der dunkelseidenen Wandbespannung, den Schaukelstühlen aus schwarzem Holz, den schweren neogotischen, von Facettenspiegeln überragten Anrichten, den Beistelltischchen und überladenen Vasen, den Grünpflanzen, die wie durch Mimikry selbst etwas Rokokohaftes angenommen hatten, und den Daguerreotypien mit alten, pausbäckigen Babys oder schreckensstarr in die Kamera glotzenden Greisen; er kannte das Speisezimmer, das etwas kleiner, aber ebenso mit erstickendem Plunder vollgestellt war, der in den bürgerlichen Interieurs des 19 . Jahrhunderts einen Eindruck von Wohlstand bewirken sollte.
    »Beachten Sie das ganze abscheuliche Zeug am besten gar nicht«, hatte Euclides bei seinem ersten Besuch gesagt, »das ist sehr viel eher die Welt meiner Mutter als meine. Sie hat mir das Versprechen abgerungen, bis zu ihrem Tod nichts daran zu verändern, und wie Sie feststellen konnten, ist diese teure Frau immer noch sehr wohl am Leben. Nichts ist hier verändert worden seit meiner Kindheit, was mir paradoxerweise dazu gedient hat,

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