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Wo Träume im Wind verwehen

Wo Träume im Wind verwehen

Titel: Wo Träume im Wind verwehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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täglich Brot auf dem Meer verdiente. Sanft zog sie ihn zu der Stelle, wo sein Vater gestorben war.
    »Hier?« Joes Stimme klang leidenschaftslos, als hätte er eine Frage über eine historische Stätte gestellt, die nichts mit ihm persönlich zu tun hatte. Doch als Caroline nickte, verrieten ihn seine Augen. Sein Blick war umwölkt. Er senkte die Lider, um seine Gefühle vor ihr zu verbergen.
    »Ich erinnere mich nicht mehr an alles, aber ich weiß noch, wie ich dachte, dass er dich und deine Mutter sehr geliebt haben muss.«
    »Mit fünf willst du das schon gewusst haben?«
    »Ich war zu jung, um es zu verstehen …« Caroline hielt inne, nach Worten suchend. Ihre Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an. »Aber ich spürte, was die Tränen zu bedeuten hatten.«
    Joe sah sie nicht an. Er lehnte sich gegen die Frühstücksbar und betrachtete eingehend die Kieselsteine, die jemand dort liegen gelassen hatte.
    »Er weinte?«
    »Ja.« Caroline brachte es nicht fertig, ihn zu belügen.
    »Und er war wütend?«
    »Zuerst schon.« Sie versuchte sich die Situation ins Gedächtnis zurückzurufen. Das Gesicht des Mannes, das gerötet war, die Waffe, die über ihrem Kopf in der Luft hin und her schwankte. »Aber dann wirkte er … traurig. Sehr, sehr traurig.«
    Joe ging zum Küchenfenster. Er stand reglos da und starrte aufs Meer hinaus, das sich dunkelblau vor dem hellen Himmel abzeichnete. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben. Weit draußen, jenseits der Brandung, lag die
Meteor.
Er blickte angestrengt zu ihr hinüber. Am liebsten hätte er Firefly Hill fluchtartig verlassen, um sich auf seinem Schiff in Sicherheit zu bringen. Er warf Caroline einen raschen Blick zu.
    »Und du? Wo warst du?« Seine Stimme klang argwöhnisch wie immer.
    »An dem Abend?«, fragte sie überrascht. Dann deutete sie darauf, eine Handbreit von der Stelle entfernt, an der sein Vater gestanden hatte. »Da drüben.«
    »Ganz schön hart für ein kleines Mädchen.« Sein Blick war immer noch auf die Kieselsteine gerichtet, die er in die Hand genommen hatte.
    »Nichts im Vergleich zu dem, was du durchgemacht hast.«
    »Ich war nicht einmal hier.«
    »Glaubst du, das hätte etwas geändert? Meinst du, du hättest ihn von seinem Vorhaben abbringen können?«
    Er zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder zum Fenster. Die Sonne ging unter, der Schatten der Klippe fiel über die breite Bucht. Caroline blickte ihn an. Ihr war, als könnte sie seine Gedanken lesen.
    »Er hatte dein Bild bei sich. Er holte es heraus, und einen Moment lang hielten wir es gemeinsam in der Hand, er und ich. Ich dachte immer …«
    »Sprich weiter.«
    »Ich dachte immer, dass dein Vater dich auf diese Weise bei sich hatte. Das Letzte, was er sah, war dein Gesicht. Er liebte dich sehr.«
    Joe drehte sich langsam um und dann schüttelte er stumm den Kopf.
    »Nein«, sagte er schließlich. »Das Letzte, was er sah, war dein Gesicht. Du warst bei ihm, Caroline. Du warst bei ihm, als er starb.«
    Zwei Schritte, und sie war in Joes Armen. Als er sie umfing, hörte sie, wie die Kieselsteine zu Boden fielen. Sie verstand seine Gefühle, weil auch sie sich gewünscht hatte, sie wäre bei ihrem Vater gewesen, als er starb, aber er hatte sie schon lange vorher aus seinem Leben ausgeschlossen. Sie spürte ihre heißen Tränen an Joes Hals. Seine starken Arme pressten sie an sich, seine Hände umklammerten ihre Schultern. Er schluckte schwer, bemüht, seine eigenen Tränen zu unterdrücken. Das Meer hinter ihm war silberfarben und schwarz, die Mondsichel stand über dem Horizont.
    »Wir haben sie geliebt«, sagte Caroline und meinte beide Väter. »Es wäre nur schön gewesen, wenn wir sie etwas länger gehabt hätten.«
    Sie klammerten sich aneinander. Joe strich über Carolines Haar. Sie hatte ihn trösten wollen, doch nun tröstete er sie, hielt sie in den Armen, flüsterte ihren Namen, sagte ihr, wie viel es ihm bedeute, dass sie bei seinem Vater gewesen war, als er starb.
    Die Küchenuhr tickte laut. Wellen brandeten an den Strand, mit wirbelnden Felsbrocken in ihrem Kielwasser. Es war Zeit zu gehen. Augusta würde bald nach Hause zurückkehren, und Caroline hatte keine Lust, einen weiteren Wutausbruch mitzuerleben, der bei ihrer Ankunft fällig sein würde.
    Joe blickte in Carolines Augen und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Dann holte er sein Taschentuch heraus und reichte es ihr. Sie trocknete ihre Tränen, faltete es zusammen und gab es ihm zurück.

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