Wo Träume im Wind verwehen
zwanziger Jahre. Oder er verglich die Renwicks mit drei Primadonnen, die miteinander auf der Bühne standen und zur gleichen Zeit in verschiedenen Opern sangen.
Michele konnte nicht anders, sie musste einfach lachen, wenn Tim die Familie beschrieb, aber Caroline lag ihr trotzdem am Herzen. Caroline hatte sie im selben Jahr als Assistentin eingestellt, als sie den Gasthof eröffnete. Sie hatten während der letzten zehn Jahre in verschiedenen Büros gearbeitet, aber Seite an Seite, und obwohl Caroline nicht zu Vertrauensseligkeit neigte, hatte Michele regen Anteil an den wichtigsten Ereignissen in ihrem Leben genommen. Sie hatte miterlebt, wie sich Caroline von einem … nun ja, verrückten Renwick-Mädchen in eine kluge und allerorts respektierte Geschäftsfrau verwandelte. Caroline war immer loyal und herzlich gewesen, und diese Eigenschaften hatten sich ausgezahlt.
Michele war für die Vermittlung der Telefongespräche zuständig und folglich auch mehr oder weniger zwangsläufig in Carolines Liebesleben, Geschäftsleben und Familienleben eingeweiht. Und sie war Zeuge, wie sich das Renwick Inn im Laufe der Zeit dank Caroline von einem Refugium für verschrobene Künstler zu einer Nobelherberge gemausert hatte, die Gäste aus aller Welt anzog. Einige kamen wegen der reizvollen Landschaft, andere, um das Ambiente zu genießen, und wieder andere, weil der Name der Besitzerin Renwick lautete.
Carolines Vater genoss einen Ruhm, der sonst nur Schauspielern und Politikern vorbehalten war. Er war ein Künstler, dessen Bilder in den Museen von New York, Paris und London hingen und der mit seiner ungezügelten Lebensweise zum erklärten Liebling der Klatschreporter wurde. In einem Porträt, das im
Esquire
erschien, wurde Hugh Renwick »der Hemingway unter den Landschaftsmalern des 21. Jahrhunderts« genannt. Der Verfasser führte seine Tapferkeit im Zweiten Weltkrieg an, seine alkoholischen Exzesse, seine Seitensprünge, seine Gewalttätigkeit, sowie seinen Hang zur Selbstzerstörung, und er beschrieb, wie sein Talent alles – und alle Menschen – in seinem Leben zu vereinnahmen schien.
Während der Recherche hatte sich der Journalist auf ein Zechgelage mit Hugh Renwick eingelassen, gemeinsam mit dem Fotografen, der in seinem Metier gleichermaßen bekannt war. Die Eskapaden im Rausch waren in den Artikel eingeflossen. Sie fotografierten ihn in Jagdkleidung mit einem Gewehr in der Hand, irgendwo in den Wäldern, die an eine Bucht in Maine grenzten. Hugh hatte ihnen die Geschichte von einem Einbrecher erzählt, die dem Ganzen erst die richtige Würze verlieh. Der Mann sei in sein Haus eingedrungen, habe seine Familie als Geisel genommen und sich am Ende selbst das Hirn aus dem Schädel geblasen.
Michele erinnerte sich an Hughs grenzenlose Wut. Sie schwang unausgesprochen in jeder Zeile des Porträts mit, das in der Zeitschrift erschienen war – der Mann war in
sein
Haus eingedrungen, hatte
seine
Töchter bedroht. Er konnte sie nicht vierundzwanzig Stunden am Tag schützen, aber ihnen verdammt noch mal beibringen, wie man mit einer Waffe umgeht. Was sich auf dem Redhawk Mountain zugetragen hatte, der Jagdunfall, in den seine Tochter Skye verwickelt war, tat ihm Leid. So weit sich Michele erinnerte, war der Name des Mannes, der dabei ums Leben gekommen war, in dem Artikel nicht genannt worden. Die Sorgen und Selbstzweifel, unter denen Hugh gelitten hatte, waren dem Rotstift zum Opfer gefallen, sodass nur Wut und Macho-Gehabe blieben.
Michele wusste, dass diese Form der Berichterstattung einseitig war. Hugh Renwick hatte sich bisweilen jämmerlich gefühlt. So sehr er die Jagd auch geliebt hatte, das Leben bedeutete ihm mehr. Er liebte die Natur. Seine Töchter waren sein Ein und Alles. Die Welt konnte seinen Leidenschaften keinen Dämpfer aufsetzen; er hatte sich diesen Rausch der Sinne und die Fülle des Erlebens für jedermann gewünscht, vor allem für seine Familie. Doch nach dem Jagdunfall hatte er sich verändert, war in sich gekehrt. Michele hatte beobachtet, wie er um den jungen Mann trauerte, Tag für Tag, wenn er in einer dunklen Ecke der Bar im Renwick Inn trank, schweigend, mit gesenktem Kopf.
Die Künstler, die dort logierten, pflegten ihn anzusprechen. Er war höflich, und hin und wieder ließ er sich zu einem Drink einladen. Er konnte in der Bar sitzen, stundenlang auf einen Fleck zwischen seinen Ellbogen starren und das Ansteigen und Absinken des Whiskeypegels in seinem Glas beobachten. Obgleich er
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