Wo Träume im Wind verwehen

den ich Dir geschrieben habe, über Clea und Skye und dass es wunderbar ist, Schwestern zu haben. Aber das ist nicht immer der Fall. Habe ich meinen Vater erwähnt? Er ist Maler. Ein berühmter Maler, genauer gesagt. Er will, dass wir lernen, »wie es im Leben zugeht«. (Jungen haben es in dieser Beziehung leichter, wenn Du es genau wissen willst) (Sagt er.) (Ich werde noch verrückt vor lauter Klammern.)Mädchen müssen abgehärtet sein und lernen, auf sich selbst aufzupassen. Deshalb nimmt er uns auf den Redhawk Mountain zum Jagen mit. Er liebt uns sehr, weißt Du.
Er will, dass wir so viel wie möglich lernen, damit wir einen Vorgeschmack auf das wirkliche Leben bekommen. Wir zelten, fischen und jagen. Wir machen eine Art Überlebenstraining draußen in der Wildnis. Die Jagd gehört dazu, aber ich hasse sie. Töten fällt mir sehr schwer – er wäre bestimmt ärgerlich, wenn er wüsste, wie sehr ich es hasse, auch wenn es nur Eichhörnchen sind, die daran glauben müssen.
Nachts ist der Wald stockfinster und kann einem Angst einjagen. Manchmal haben wir große Angst, vor allem Skye. Ich liebe sie sehr, Joe. Mir kommen schon die Tränen, wenn ich nur den Brief schreibe, weil ich nicht weiß, wie ich weiterleben soll, wenn Clea oder Skye etwas passieren würde. Sie sind die besten, liebsten Schwestern auf der ganzen Welt. Schreib bald zurück. Ich glaube langsam, Du könntest mein bester Freund werden.
    Alles Liebe
Caroline
    2. Februar 1977
Liebe Caroline,
jagen stelle ich mir Klasse vor. Dein Dad ist ein toller Mann. Ich würde gerne Dein bester Freund sein. Unter einer Bedingung. Du musst mir das Schlimmste erzählen, was du auf dem Berg erlebt hast.
    Alles Liebe
Joe
    4. März 1977
Lieber Joe,
willst Du das wirklich wissen? In Ordnung, ich sage es Dir. Das Schlimmste sind meine Gefühle. Mein Vater hat Skye gezwungen, schießen zu lernen. Sie wollte nicht. Ich bin unvorstellbar wütend auf ihn. Er hat etwas Unwiderbringliches zerstört. Es macht mir Angst, wie sehr ich ihn inzwischen hasse. Jagen ist nicht Klasse, ist nicht so, wie Du meinst. Es ist grauenvoll. Möchtest Du trotzdem mein bester Freund sein? Wenn nicht, kann ich es Dir nicht verdenken. Nicht einmal ich selbst würde das wollen.
    Caroline
    21. März 1977
Liebe Caroline,
offensichtlich bist Du völlig durcheinander, Du hast Deinen Brief dieses Mal nicht mit »Alles Liebe« unterschrieben. Das ist zwar eine Kleinigkeit, doch wir besten Freunde können ziemlich empfindlich sein. Ich kenne Skye nicht, aber da sie Deine Schwester ist, ist sie bestimmt schwer in Ordnung. Dein Vater sollte die Jagd sausen lassen und lieber wieder malen. Oder noch besser, auf Schatzsuche gehen. Er könnte Dir beibringen, wie man Dublonen aufstöbert.
    Alles Liebe
Joe
    PS : Das sollte ein Scherz sein, um Dir ein Lächeln zu entlocken. Also – lächeln!
PS zum Zweiten: Du dachtest wohl, ich hätte die
Cambria
vergessen!
PS zum Dritten: Lächeln, C.

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    5
    C aroline war in Gedanken.
    Das erkannte Michele Brady auf den ersten Blick an der Art, wie sie geistesabwesend den Gasthof betrat, an den Gästen vorbeiging, die im Gesellschaftszimmer frühstückten, und die telefonischen Nachrichten von Micheles Schreibtisch nahm, ohne mehr als flüchtig »Guten Morgen« zu sagen. Caroline sah fantastisch aus, wie immer – ärmelloses schwarzes Leinenkleid, schwarze Sandalen, silberne Ohrringe, silberne Halskette. Sie lächelte, aber es wirkte gezwungen.
    Oder schmerzlich, dachte Michele besorgt. Aus bestimmten Telefongesprächen war ersichtlich, dass Skye offenbar wieder in der Klinik war. Dieses Mädchen bereitete Caroline ohne Zweifel eine Menge Kopfzerbrechen. Und nicht nur sie, sondern ihre ganze Familie. Sogar Clea, überall in der Stadt als mustergültige Ehefrau und Mutter bekannt, rief Caroline dauernd an, weil sie Probleme hatte. Und Augusta strich sich nicht einmal Butter auf ihren Toast, ohne Caroline vorher telefonisch um Rat zu fragen.
    Michele war seit zehn Jahren Carolines rechte Hand. Mit zweiundvierzig war sie um einiges älter und hatte das Gefühl, sie unter ihre Fittiche nehmen und beschützen zu müssen. Sie erzählte ihrem Mann Tim oft von Carolines exzentrischer Familie und ihren neuesten Horrorgeschichten. Er war Englischprofessor an einem College in Connecticut. Tim pflegte das Gesicht zu verziehen und mit seinem typischen trockenen Humor zu sagen, Skye sei Neuenglands Antwort auf Zelda und Scott Fitzgerald, das amerikanische Traumpaar der wilden