Wo Träume im Wind verwehen
Mutter derart gebieterisch wurde, war sie hochgradig besorgt. Sie weigerte sich, Dinge zu akzeptieren, die ihr missfielen, die kleinen Ärgernisse im Leben, die ihr gegen den Strich gingen. Sie zog es vor, die Realität durch ihre eigene Brille zu betrachten, und sah darin eine Möglichkeit, ihre geistige Gesundheit zu bewahren. Clea legte den Arm um Augustas schmale Schultern und schmiegte sich an den Pelzmantel, den ihre Mutter übergeworfen hatte; darunter trug sie Jeans und Turnschuhe. Caroline spürte, wie ihre Wut verebbte.
»Das ist Absicht«, sagte Clea. »Die Ärzte machen sich einen Spaß daraus, die Mütter auf die Folter zu spannen, bevor sie sich herablassen, mit ihnen zu reden. Genau wie Pfarrer. Das hat Peter im Theologiestudium gelernt.«
Augusta schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Sie fand das Ganze nicht zum Lachen, setzte vielmehr ihre würdevolle Mine auf und blickte hoheitsvoll die Gänge hinunter, als würden sie ihr gehören. Wie Caroline hatte auch Augusta Renwick die Klinik mit großzügigen Spenden unterstützt. Seit Hughs Tod hatte sie an Eröffnungsfeiern, Aufsichtsratssitzungen oder Veranstaltungen teilgenommen, in die ihr Schwiegersohn, der Pfarrer, einbezogen war. Ihrer jüngsten Tochter in der psychiatrischen Abteilung einen Besuch abzustatten gehörte gewiss nicht zu ihren Gepflogenheiten.
Endlich tauchte Peter auf. Er trug dunkle Hosen, und sein weißer Kragen kennzeichnete ihn als Priester. Mit einem anderen Mann im Gespräch, kam er auf sie zu. Er küsste Augusta und Caroline zur Begrüßung auf die Wange, dann zog er Clea in seine Arme. Sie standen einen Moment lang eng umschlungen da, flüsterten miteinander und blickten sich tief in die Augen, bis sich allmählich ein Lächeln auf Cleas besorgtem Gesicht ausbreitete. Dann stellte Peter ihnen Dr. Jack Henderson vor, den Chefarzt der Suchtstation.
»Guten Tag. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Dr. Henderson.
»Ganz meinerseits«, erwiderte Augusta argwöhnisch.
»Hallo, Jack«, sagte Clea und machte einen Schritt auf ihn zu.
Augusta erschauerte, vermutlich bei dem Gedanken, dass ihnen der Arzt zu nahe treten und etwas Persönliches über ihre Familie erfahren könnte. Caroline kannte ihn vom Sehen. Sie war ihm bei einer Retrospektive auf das künstlerische Werk ihres Vaters begegnet.
»Hallo«, sagte Caroline und reichte ihm die Hand.
»Kennt ihr euch?«, fragte Augusta.
»Ich bin Kunstsammler und habe Bilder Ihres verstorbenen Mannes erstanden«, antwortete Dr. Henderson.
»Tatsächlich?« Augustas Miene hellte sich auf. »Freut mich zu hören. Dann wissen Sie vermutlich auch, dass Skye ganz nach ihm geraten ist. Eine Künstlerin vom Scheitel bis zur Sohle.«
Der Arzt nickte.
»Eine geniale Künstlerin, Doktor. Absolut brillant, und das sage ich nicht nur, weil ich ihre Mutter bin.« Augustas Blick wanderte, Bestätigung suchend, von einem zum anderen. Ihre Augen schimmerten feucht, als wäre sie den Tränen nahe. »Sie ist Bildhauerin. Ihr wurde schon vor Jahren große Anerkennung in der Kunstwelt zuteil, obwohl sie noch so jung ist. Stimmt’s, Mädchen?«
»Stimmt«, pflichtete Clea ihr bei. Caroline schwieg. Sie spürte, wie sich ihre Mutter an sie lehnte, und nahm ihre Hand, um sie zu stützen.
»Sie ist ungemein begabt …« Augustas Stimme klang erstickt. Sie griff sich an die Kehle, dann riss sie sich zusammen. »Aber im Moment ist sie blockiert.«
»Blockiert?«
»Ich bin kein Künstler und kenne mich auf dem Gebiet nicht so genau aus. Aber ihr Vater pflegte zu sagen, dass er sich umbringen würde, wenn er nicht mehr malen könne. Ein Künstler, der seine Kunst nicht auszuüben vermag … Sie leidet sehr darunter. Stimmt’s, Caroline? Man sieht es ihr regelrecht an.«
»Mom …«
»Das ist der einzige Grund«, fuhr Augusta unbeirrt fort, als wäre sie bemüht, nicht nur ihre Zuhörer, sondern auch sich selbst zu überzeugen.
»Mom, lass uns warten, bis Skye aufwacht. Dann kann sie selbst mit Dr. Henderson sprechen«, sagte Caroline beschwichtigend.
Augusta schüttelte Carolines Hand ab.
»Eine kreative Blockade«, wiederholte sie mit zitternder Stimme. »Das erklärt alles. Sie hat Angst, dass sie nicht mehr arbeiten kann. Und außerdem hat ihr Mann sie verlassen. Es ist schrecklich, einfach grauenhaft …«
»Hm, ja«, sagte Dr. Henderson.
»Und wer könnte unter solchen Umständen der Versuchung widerstehen, sich ab und zu ein Glas zu Gemüte zu führen?
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