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Wo Träume im Wind verwehen

Wo Träume im Wind verwehen

Titel: Wo Träume im Wind verwehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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die lange Felsentreppe zum Strand hinab, der dreißig Meter unter ihnen lag. Als sie ein Viertel der Strecke hinter sich hatten, hörte sie, dass ihre Mutter stehen blieb. »Kommst du, Homer?«, rief sie.
    Der alte Hund stand auf der obersten Stufe. Die Sonne zauberte goldene Lichtreflexe auf sein schütteres Fell. Aus diesem Winkel sah er jung und quicklebendig aus. Caroline erinnerte sich, wie gerne er im ersten Sommer am Strand entlanggelaufen war. Als Berghund geboren, hatte er den Strand bald lieben gelernt.
    »Homer?«, rief Augusta noch einmal. Sie zögerte, während sie zu ihm hinaufblickte. Ihre Haltung wirkte angespannt, drängend. Es schien, als wollte sie ihn zwingen, sich endlich in Bewegung zu setzen. »Er ist müde, Mom«, sagte Caroline sanft.
    »Vermutlich hast du Recht.« Wortlos folgte sie Caroline die Felsenstufen hinab.
    Die Zeit, die sie miteinander beim Schwimmen verbrachten, war für beide kostbar. Caroline nahm sich im Sommer mindestens zwei- bis dreimal im Monat frei, um den Spätnachmittag mit ihrer Mutter am Strand zu verbringen. Sie gingen ins Wasser. Es war kalt und sehr salzhaltig, und Caroline schwamm zu dem großen vorgelagerten Felsen hinaus und zurück. Sie spürte, wie das Meer ihren Körper umspülte, und fühlte sich wie neugeboren, wenn sie bei Flut mit ihrer Mutter schwimmen ging. Sechsunddreißig Sommer lang hatten sie dieses Ritual gepflegt, und immer betete sie aufs Neue, dass ihnen ein weiteres Mal vergönnt sein möge, ein weiteres Mal miteinander schwimmen und ein weiterer gemeinsamer Sommer.
    Danach legten sie sich am Strand auf getrennten Tüchern in die Sonne. Es war fast fünf, aber es war noch warm, und das Licht wirkte wie vergoldet. Es glitzerte auf dem Meer und verlieh den kleinen Kieselsteinen, die nass waren von den Wellen, das Aussehen von Bernsteinperlen. Während ihre Mutter ein Buch aufschlug und zu lesen begann, blickte Caroline aufs Meer hinaus. dort hinten lag die
Meteor,
schaukelte auf den Wellen. In nur wenigen Stunden würde sie an Bord des Schiffs zu Abend essen.
    Caroline nahm Clarissas Tagebuch aus ihrer Tasche. Es war das Original, das Maripat ihr gegeben hatte, weshalb sie es vorsichtig in einiger Entfernung vom Sand hielt.
    1. August 1769
Heute sieben Schoner, eine Brigg und ein Barkschiff gezählt. Zweiundzwanzig rote Seesterne gefunden. Nach dem Mittagessen zwei Joe Froggers gegessen. Drei Adler, zwanzig Fischadler und mehr als hundert Silbermöwen gesehen. Mehr als tausend Silbermöwen. Mehr als siebentausend Silbermöwen. Aber weit und breit keine Freunde! Kein Mädchen in meinem Alter, mit dem ich spielen könnte. Nur Mama und Pa, wenn er nicht zu müde ist. Morgen Früh wollen wir Venusmuscheln suchen.
    4. August 1769
Pa hat vier Gänse geschossen. Bei dem Knall aus seinem Gewehr bin ich furchtbar erschrocken und habe geweint, doch keine Spur von Mama. Sie war nicht da. Ich habe überall nach ihr Ausschau gehalten, aber sie erst gefunden, als es schon fast dunkel war, an der Südküste, wo der Wal gestrandet ist. Ich wollte die Suche schon fast aufgeben. Mama war genauso traurig wie damals, als Großmutter starb und wir nach Providence fahren mussten, um sie zu beerdigen, aber heute ist niemand gestorben. Sie hat behauptet, dass sie nicht geweint hat, aber das stimmt nicht, denn als ich ihr einen Kuss gegeben habe, hat sie nach Tränen geschmeckt. Ich habe ihr von den Gänsen erzählt und dachte, sie würde sich freuen, weil wir Weihnachten immer Gänsebraten essen, aber sie weinte nur noch mehr.
    »Was ist denn das?«, fragte Augusta neugierig.
    »Ein uraltes Tagebuch«, antwortete Caroline zögernd. »Von einem kleinen Mädchen, das sein Leben beschreibt. In diesem Teil geht es um ihre Mutter.«
    »Liebt es sie?«
    »Sehr.«
    »Gut«, sagte Augusta zufrieden.
    Merkwürdige Frage, dachte Caroline. Vor allem von einer Frau, die selbst Mutter war.
    Wieso war sie so verunsichert? War sie das auch schon gewesen, als die Mädchen noch klein waren? Vielleicht war das eine Erklärung für viele Geschehnisse, für die Jagdausflüge, die ewigen Streitereien, die Trennungen und Versöhnungen zwischen Augusta und Hugh. Caroline litt mit ihrer Mutter, damals wie heute.
    »Das Tagebuch stammt von Clarissa Randall, der Tochter der Frau, die bei dem Schiffsuntergang ums Leben kam.«
    »Da draußen auf dem Wrack?« Augusta beschattete ihre Augen, während sie die Schiffe am Horizont betrachtete.
    »Ja.«
    »Faszinierend, Liebes! Ich beobachte sie seit

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