Wo Träume im Wind verwehen
Skalpellklinge besaß, zugespitzt und in Tinte getaucht, um damit Tagebuch zu schreiben.
15. August 1769
Heute war ein schweres Unwetter. Die höchsten Wellen, die ich seit dem letzten Winter gesehen habe, und ein Sturm, der den Turm ins Wanken brachte; ich hatte Angst, das Leuchtfeuer würde erlöschen. Pa hat uns erzählt, dass ein Schiff auf den Wickland Shoals gestrandet sei; aber es gibt keine Menschenleben zu beklagen, alle Besatzungsmitglieder sind zum Glück gerettet worden. Ich bin froh, dass wir hier sind, um das Leuchtfeuer in Gang zu halten.
17. August
Mama war fast den ganzen Tag weg. Ich habe sie überall gesucht. Ich dachte, sie sei vom Sturm ins Meer geweht worden, und hatte große Angst. Pa hat uns von Piraten erzählt, die an vielen Küsten ihr Unwesen treiben, böse Männer, die rauben und vor Gewalt nicht zurückschrecken, um sich zu bereichern. Mama besitzt viele schöne Dinge; was wäre, wenn die Piraten sie verschleppt haben, dachte ich. Sie trägt immer Großmutters Kameenbrosche am Hals. Und sie hat einen Anhänger mit Perlen und Granaten, ein Hochzeitsgeschenk von Pa. Piraten würden solche Kostbarkeiten bestimmt unwiderstehlich finden. Ich dachte, was wäre, wenn sie Mama verletzt und ihr den Schmuck geraubt haben? Oder wenn sie sie auf ihrem Seeräuberschiff mitgenommen haben, damit sie ihnen das Essen kocht und die Frau ihres Anführers wird?
Aber es ist nichts passiert. Mama ist nach Hause gekommen. Als ich wissen wollte, wo sie war, hat sie mich so merkwürdig angesehen. Sie sagte, dass Frauen auch ihre Geheimnisse hätten, genau wie kleine Mädchen, und dass sie manchmal eine Weile alleine mit ihren Geheimnissen sein müsse. Die Geheimnisse würden dafür sorgen, dass es ihr gut gehe, hat sie gesagt. Ich verstehe das nicht. Aber sie scheint glücklich zu sein. Ich sollte es wohl auch sein.
18. August
Mama ist schon wieder verschwunden! Inzwischen kommt es mir spannend vor, wie ein Spiel. Sie hat ein Geheimversteck! Wo es wohl sein mag? Wäre es nicht schön, wenn ich es auch benutzen könnte? Ich habe schon ein paar beisammen: Lightning Rock, den größten Granitfelsen am Nordende der Insel, und die Gezeitentümpel an der Südküste, wo wir zu Beginn des Sommers den Finnwal gefunden haben. Außerdem das Ödland, wo nur Kiefern wachsen, die grüne Talsenke, den Dachboden über dem Leuchtfeuer. Soll ich Mama das Geheimnis lassen oder versuchen es zu lüften?
20. August
Captain Thorn von der
Cambria
hat uns einen Antrittsbesuch abgestattet. Er hat Walöl und Lavendel mitgebracht. Ich mag ihn nicht.
22. August
Windig. Habe beim Bootshaus gespielt und Mama gesehen; sie hat sich mit Captain Thorn unterhalten. Ich kann ihn nicht ausstehen. Er ist aus England und redet so komisch, dass es Pa zum Lachen bringt. Mama hat mich gebeten, Pa nichts von dem Zusammentreffen zu erzählen. Auf dem Nachhauseweg haben wir einen Hummer gefunden, der seine Schale im Seetang abstreifte. Mama hat ihn für Pa gekocht, und er hat mir die Scheren zum Essen überlassen. Ich habe Mamas Geheimversteck immer noch nicht gefunden.
Während Caroline diese Zeilen las, atmete sie schwer. Clarissa hatte das Geheimversteck ihrer Mutter entdeckt, ohne es zu wissen. Captain Thorn war ihr Geheimnis, aber Clarissa war zu naiv, um es zu erkennen. Wie Caroline, die gedacht hatte, Hugh male irgendwo, während er sich in Wirklichkeit mit Joes Mutter oder einer anderen Frau herumtrieb.
24. August
Heute sind Tümmler an der Bucht vorbeigezogen, direkt vor einem Wal. Ich wäre am liebsten mit ihnen geschwommen, aber Mama hat es verboten. Sie saß so still und traurig am Strand wie seit Wochen nicht mehr. Die Seeschwalbenjungen, die bei ihren Müttern um Futter bettelten, haben sie zum Weinen gebracht, und ich sagte: Was hast du, Mama? Für gewöhnlich bringen uns die Vögel zum Lachen. Aber sie meinte nur, dass ich ein braves Mädchen sei und gut auf mich Acht geben solle, was immer auch geschehen werde. Weil Mamas wissen müssen, dass es ihren Kindern gut geht, auch wenn sie sich nicht um sie kümmern können.
29. August
Ich kann es nicht glauben. Mama ist fort! Captain Thorn hat sie auf der
Cambria
mitgenommen, und sie ist mit dem Schiff untergegangen und auf dem Moonstone Reef ertrunken. Lieber Gott gib mir meine Mama zurück!
Caroline las die grauenvollen Worte, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Das arme kleine Mädchen. Von der eigenen Mutter verlassen, und wofür? Damit das Schicksal sich erfüllte und
Weitere Kostenlose Bücher