Wo Träume im Wind verwehen
sich umschnallte. Sie waren bereit für den Tauchgang.
»Ich meine es ernst, Joe«, sagte Sam streng. »Du solltest dich an Land niederlassen. Am besten hier in der Gegend. In der Nähe von Black Hall.«
»Warum Black Hall?«
»Denk mal nach, du Schwachkopf. Denk einfach mal darüber nach.«
Joe stieß Sam über Bord. Er sah, wie sein Bruder wild um sich schlug und Wasser ausspie. Joe folgte ihm in das kalte Nass. Die Brüder spuckten in ihre Tauchermasken und verrieben den Speichel auf der Sichtscheibe, damit sie nicht beschlug, bevor sie die Masken überstreiften. Sam wollte Joe gerade untertauchen, da stieß ihn sein großer Bruder zur Seite, aber er schwamm friedfertig zurück. Das Wasser an Joes Händen und Hals fühlte sich eisig an. Er schnappte nach Luft und versuchte sich an die Temperatur zu gewöhnen. Der jahrelange Aufenthalt in wärmeren Gewässern hatte den Neuengländer in ihm ausgetrieben.
»Black Hall«, sagte er zu Sam und trat auf der Stelle. »O mein Gott!«
»Denk darüber nach.«
Sie schoben das Mundstück des Lungenautomaten zwischen die Zähne und tauchten ab.
Das Sonnenlicht dringt bis auf eine Tiefe von zweihundert Fuß vor, aber für das menschliche Auge herrscht schon vorher Dunkelheit. Joe, der an Sams Seite tauchte, spürte das Wrack, das drohend vor ihnen aufragte. Es hing auf einem Riff fest, am so genannten Geschiebe einer Moräne aus der Eiszeit, einem abgestorbenen Wald aus schwarzem Nutzholz. Die drei Spieren waren in der Mitte zerbrochen, die Rahen und Fallleinen schleiften im Sand.
Taucher, Mitglieder seiner Crew, gingen ihrer Arbeit nach und schwirrten emsig wie die Bienen im Stock ein und aus. Es sah aus, als flögen sie, wenn sie auf der Stelle verweilten und plötzlich seitwärts abdrifteten, wobei Luftblasen aufstiegen. Sie schwammen durch ein klaffendes Loch mit scharfen Zacken in den Bug des gesunkenen Schiffs, eine dunkle, gähnende Höhle auf dem Meeresgrund. Und wenn sie herausschwammen, hielten sie Bruchstücke und Einzelteile des Schiffs und seiner Beute in den Händen.
Sam paddelte vorwärts. Er konnte es kaum erwarten, endlich in den Rumpf zu gelangen. Joe streckte warnend die Hand aus, um ihn zurückzuhalten. Das Licht des Scheinwerfers erhellte Sams weit aufgerissene Augen hinter der Maske, und Joe verspürte den Drang, seinen Bruder zu beschützen. Mit seiner Begeisterung brachte sich der Junge jedes Mal in Schwierigkeiten, wenn er sich beispielsweise mit seinem Motorrad ins Verkehrsgewühl stürzte oder den erstbesten Job annahm, der ihm angeboten wurde.
Joe bedeutete Sam, an Ort und Stelle zu warten. Das Wrack war zu gefährlich. Sam versuchte mit Blicken zu protestieren, aber Joe blieb standhaft. Er setzte eine erboste Miene auf, und seine Augen blitzten bedrohlich, doch er blieb zurück. Joe wünschte, er hätte sich als Sieger fühlen können, aber stattdessen hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er seinen jüngeren Bruder wieder einmal enttäuscht hatte.
Während Joe durch die lautlose Tiefe schwamm, fühlte er sich seltsam ernüchtert, weil er Sam zurückgelassen und das Gefühl hatte, ein Mausoleum zu betreten. Was er gewissermaßen auch tat. Als er in das Wrack der
Cambria
schwamm, kam es ihm vor, als würde er eine schmerzliche Pflicht erfüllen. Er wollte Clarissas Mutter die letzte Ehre erweisen. In seiner Vorstellung war Clarissa immer ein kleines Mädchen geblieben, ein elfjähriges Kind, von der Mutter verlassen, die auf einem Segelschiff davongefahren und nicht mehr nach Hause zurückgekehrt war. Bei der Lektüre des Tagebuchs war er auf Informationen gestoßen, die ihm ermöglichten, die sterblichen Überreste ihrer Mutter einwandfrei zu identifizieren. Eine Arbeit, bei der es galt, seine persönlichen Gefühle aus dem Spiel zu lassen.
Joe schwamm in das schwarze Loch hinein. Er befand sich in einem langen Gang, der durch den trügerisch verzerrten, auf dem Kopf stehenden Rumpf des Schiffs führte, und folgte dabei dem trüben Licht, das die Bergungsstätte markierte. Sein Herz klopfte, aber er bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Er war froh, dass er Sam verboten hatte, ihn zu begleiten. Es galt, unter Wasser so flach und gleichmäßig wie möglich zu atmen. Er hatte die Auswirkungen der Caisson- oder Dekompressionskrankheit bei Tauchern miterlebt. Sie explodierten beinahe in Folge des Stickstoffs, der sich in ihrem Körper angesammelt hatte, weil sie in Panik geraten und ohne Druckausgleich zu rasch aus großen Tiefen aufgetaucht
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