Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
das schon alles selbst schaffen.
Während Alex vorflog, packte ich die Sachen zusammen. Der große Fernseher wurde eingelagert, weil er in New York nicht funktionieren würde, Kleiderschränke brauchten wir auch nicht, weil es Kleiderkammern gab. Die Grünpflanzen schenkte ich meiner Schwester, unseren Küchentisch überließ ich unserem Nachmieter, den Volvo verkaufte unser Schwager aus Steglitz. Ich schrieb Briefe ans Einwohnermeldeamt, die Kindergeldkasse, die Krankenkasse, die Rentenversicherung, die Steuerberaterin, kündigte die Schule und den Kindergarten, ließ den Kater impfen, ging zum Zahnarzt, zum Frauenarzt, zum Friseur, traf alle meine Freunde, manche zweimal, verlängerte meinen Erziehungsurlaub und versicherte meinem Chefredakteur, dass ich gerne als Korrespondentin arbeiten würde, sobald wir eine gute Kinderbetreuung gefunden hätten. Mein Kalender war vollgestopft mit Terminen und Verabredungen: »Willi, Tierarzt«, »Lieferung Umzugskartons«, »Einpacken New York«, »Neuen Presseausweis abholen«, »Abschiedsfeier Redaktion«, »Hausmeister bestellen«, »Nachmieter Übergabe«, »Ferdinand Weihnachtsfeier«, »Luftfracht abholen«, »Mama Essen«. Der letzte Eintrag ist vom 16. Dezember 1999. Er lautet: »9.55 Uhr Berlin-Tegel, New York«. Dann kommt nichts mehr. Kein einziger Termin, kein Eintrag, keine Verabredung. Man könnte denken, ich sei abgestürzt, verlorengegangen auf meinem Weg in die neue Welt.
Die Frau, die an unserer Haustür in Brooklyn klingelte, war klein, hatte dunkle Locken, dunkle Augen und ein lustiges Lachen. Sie sagte, sie sei Debbie aus dem Kinder-Second-Hand-Laden im Erdgeschoss, sie freue sich, dass wir jetzt hier wohnten. Wenn ich irgendwelche Fragen hätte, könne ich bei ihr klingeln.
Debbie war meine Rettung. Ihr Sohn Derek war nur ein Jahr älter als Ferdinand und baute genauso gerne mit Lego wie er. Nach der Schule spielten sie bei uns im Haus oder im Garten oder unten bei Debbie im Laden. Bei Debbie war immer was los, es gab Bagels und Kaffee, billige Kleidung für die Kinder und buntes Plastikspielzeug, das auf Knopfdruck Tiergeräusche machte, Musik abspielte oder das Alphabet aufsagte. Ich spürte, wie ich nach Vorwänden suchte, um nach unten zu gehen. Ich war fast jeden Tag da. In Debbies Laden erfuhr ich, wie man sich für einen Kindergartenplatz anmeldet, wie man das Wasser in der Ölheizung im Keller nachfüllt, ich lernte Beth kennen, eine Opernsängerin, die früher mal in Deutschland aufgetreten war und Zwillingsmädchen hatte, sowie Bettina, eine Deutsche, die mit ihrer Familie auf der anderen Seite des Parks wohnte. Nach Dienstschluss kam Debbie zu mir nach oben, wir kochten zusammen, tranken Salmon Run , einen Weißwein aus dem Staat New York, und redeten über Schulen, über Kinder, über Männer, über uns.
Debbie war Jüdin, ich kam aus Ostberlin. Ich wusste nichts über Juden, Debbie nichts über die DDR. Sie erzählte mir, wie sie vor dem Fernseher geweint hatte, als sie die Bilder vom Mauerfall sah. Ich sagte, dass ich mit meiner Schulklasse im Konzentrationslager Buchenwald gewesen sei, und entschuldigte mich bei Debbie für die Verbrechen der Deutschen, was sie lustig fand, denn ihre Familie war schon vor über hundert Jahren von Ungarn nach New York ausgewandert.
Sie war in Queens geboren, ihr Vater hatte vor seinem Tod eine Kneipe geführt, ihre Mutter lebte in Florida. Debbies jüngste Schwester war heroinabhängig und galt als verschollen. Die mittlere, Lisa, arbeitete im Schnapsladen in der 5 th Avenue in Brooklyn. Debbie war mit Walter verheiratet, einem schmalen Mann mit langen dunklen Haaren. Er sah aus wie ein Indianer, kam aus einer puertoricanischen Familie und sprach Englisch mit Akzent. Meistens sprach er aber gar nicht, sondern saß lächelnd mit uns am Tisch und trank Rotwein.
Es war eine schöne Zeit, die ein abruptes Ende fand, als Bill, unser Vermieter, Debbies Laden von einer Woche auf die andere dicht machte, weil er nicht genug Geld einbrachte. Debbie war sauer und schenkte uns alle Sachen, die in Ferdinands und Maschas Größe im Lager waren, und viel singendes, bellendes und knatterndes Plastikspielzeug. Dann schloss sie den Laden ab und machte sich gut gelaunt auf die Suche nach einer neuen Arbeit, so als würde die Welt da draußen nur auf sie warten. Sie sagte, Derek sei ja jetzt schon ziemlich groß und wahrscheinlich sei das genau der richtige Zeitpunkt, sich beruflich neu zu orientieren. Der Job im Laden
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