Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Kindergarten, der sich in einem Erdgeschoss in Carroll Gardens befindet und von russischen Frauen betrieben wird, die auch dort wohnen. Morgens, bevor die Kinder kommen, klappen Nina und Oksana ihre Sofas zusammen und verwandeln ihre Schlafzimmer in Spielräume. Nachmittags kommen Oksanas Kinder von der Schule und manchmal sitzt auch ihr Mann mit am Tisch, ein kräftiger Russe, der mit den Kindern im Winter einen Schneemann gebaut hat, groß und stark wie ein sibirischer Braunbär. Mascha gefällt es bei Nina und Oksana, es ist nur ein bisschen weit weg und Mascha muss dort immer drei Stunden Mittagsschlaf halten, weil Nina und Oksana gerne ihre Ruhe haben. Sie studieren nebenbei.
Wenn ich Mascha abhole, bleibe ich manchmal noch ein bisschen und unterhalte mich mit ihnen. Ich fühle mich wohl bei den russischen Frauen. Sie sind eher so wie ich. Sie wollen was vom Leben, sie versuchen, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, sie verhalten sich nicht wie die New Yorker Mütter, die nur noch für ihre Kinder da sind, Play Dates organisieren, Bücher über die besten Kindergärten studieren, auf Spielplätzen durch den Buddelkasten kriechen und ihren Töchtern und Söhnen unentwegt zurufen, nicht so hoch zu klettern, nicht so wild zu schaukeln, keinen Sand in den Mund zu stecken und nicht über andere Kinder zu stolpern. Watch out! , sind die zwei Wörter, die ich am häufigsten in meinem neuen New Yorker Alltagsleben hörte, und manchmal habe ich das Gefühl, schon selber viel ängstlicher zu sein als damals in Berlin.
M
ascha setzt sich auf den Fußboden im Wohnzimmer. Ich schalte Channel 13 an, wo
Clifford
bereits angefangen hat, nehme mir die Kaffeetasse und die
Times
und setze mich dazu. Im Wissenschaftsteil steht, dass die Haiangriffe an der amerikanischen Ostküste im vorigen Jahr dramatisch gestiegen sind, auch in den letzten beiden Wochen sind im Atlantik schon wieder zwei Menschen totgebissen worden – ein zehnjähriger Junge in Florida und ein 28-jähriger Mann in North Carolina. Es gibt Säulendiagramme, die beweisen, dass die Haie an die amerikanische Küste zurückkommen wie die Wölfe nach Brandenburg. Haie faszinieren mich, seit ich ein Kind bin. Es lag an
Flipper
und am zweiten Band von
Urania-Tierreich
, glaube ich,
Fische, Lurche, Kriechtiere
, in dem es unheimliche Fotos von Ammenhaien gab, deren Augen kalt aus der Dunkelheit leuchteten. Als Junge habe ich mir manchmal vorgestellt, dass jemand einen Hai in dem kleinen See, der ans Wochenendgrundstück meiner Eltern grenzte, ausgesetzt hat. Ich schwamm durch den See und dachte an den Hai, der dort unter mir im trüben grünen Wasser kreiste, ein Süßwasserhai. Manchmal spürte ich ihn, seine raue Haut an meinen Beinen. Es gibt ein dreispaltiges Bild von einem
Bullshark
in der
New York Times
, das sind die schlimmsten, wie ich weiß, weil sie im Gegensatz zu den anderen Menschenfleisch mögen.
Im Fernsehen berät
Clifford
seinen Freund
T-Bone
, eine begriffsstutzige Bulldogge, ich schwimme mit den Haien, als Anja die Treppe zu uns herabsteigt. Es ist eine lange Treppe, und ich bilde mir ein, dass sich die Anspannung der letzten beiden Wochen, der Ärger von gestern Abend, als ich wegrannte und sie wartete, langsam löst, während meine Frau die Treppe herunterläuft und uns ansieht, den Fernseher, die Wissenschaftsseite mit den Haien, mich, Mascha,
Clifford
, den großen roten Hund. Als sie unten bei uns ist, sagt sie: »Eure Lieblingssendung, was?«, lächelt leicht, und ich weiß, dass alles gut wird.
Wir haben morgens oft Schwierigkeiten, einen Rhythmus zu finden, weil ich meiner Frau zu viel Energie habe und sie mir zu wenig. Sie sagt, es liege am Blutdruck, was mich ärgert, weil es mir unterstellt, ich hätte zu hohen, dabei ist meiner völlig okay. Ich habe einen vorbildlichen Blutdruck, ihrer ist zu niedrig. Ich muss morgens meine gute Laune verstecken, bis das Blut meiner Frau den richtigen Druck hat. Das ist nicht einfach und führt manchmal dazu, dass ich schlechte Laune habe, wenn meine Frau endlich in Schwung kommt. In ganz dunklen Stunden glaube ich, sie braucht meine schlechte Laune, um selbst gute zu bekommen. Aber in Momenten wie diesem jetzt, zwischen der bunten Kinderwelt dort draußen und den Haien in der Zeitung, habe ich das Gefühl, dass wir dem Blutdruck standhalten können. Ich bin keine Batterie hier und kein weißer Hase, ich bin ein Mann, ein unzuverlässiger, zerstreuter, flüchtender Mann
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