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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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Gespräch bereits in Gedanken durchgespielt und immer ein paar Alternativvorschläge parat, Filme, die mir angeblich sowieso viel besser gefallen würden als der, den er schon gesehen hat. Er ist ein Spieler, er weiß, dass ich nicht lange sauer auf ihn sein kann.
    Ich setze mich zu ihm an den Küchentisch. Er liest den Wissenschaftsteil der New York Times . Auf dem Cover ist ein riesiger Hai zu sehen.
    »Bullsharks«, sagt er, und nach einer Weile »Florida« und schließlich: »Unfassbar!«
    »Was ist unfassbar?«, frage ich.
    »Es ist unfassbar, dass die meisten Haiangriffe in Florida passieren«, sagt er und sieht mich an, als müsste auch ich nun endlich begreifen, wie sie hinter ihm her sind, die Bullenhaie dieser Welt. Nur weil wir schon zweimal in Florida Urlaub gemacht haben.
    Alex bezieht Dinge, die überhaupt nichts mit ihm zu tun haben, auf sich. Wenn ich sage, dass mir der Bauch weh tut, fasst er sich an seinen. Und wenn in Neuseeland einem Surfer von einem Hai ein Bein abgebissen wird, hat er Phantomschmerzen.
    Ich spritze ihn nass, wenn er am Strand steht und das Meer nach Flossen absucht. Er rächt sich, indem er sich von hinten anschleicht, während ich ahnungslos brustschwimme. Etwas zwickt mich ins Bein, ich drehe mich erschrocken um, dann taucht Alex aus dem Wasser auf und fletscht die Zähne. Am Wochenende spielt er mit den Kindern Hai unter der Decke im Bett. Die Kinder lieben das. »Haispielen«, ruft Mascha jeden Sonntagmorgen, während ich versuche, im Bett zu lesen. Ich kann früh nicht rumtoben. Ich brauche eine Weile, um zu mir zu kommen. Ich habe einen niedrigen Blutdruck, Alex einen hohen. Ich habe Angst vor Einbrechern, Alex vor Haien.
    Und vor Flugzeugabstürzen. Bevor er irgendwohin fliegt, ruft er mich an, egal von wo, egal zu welcher Tageszeit.
    »Und, wie ist dein Gefühl?«, fragt er mich.
    »Gut«, sage ich.
    »Wirklich?«, fragt er.
    »Ja, wirklich.«
    Dann steigt er ein.
     
     
     
    I
ch sehe meiner Frau hinterher, wie sie in die Küche geht, um sich einen Kaffee zu machen, und fühle, wie ich wieder ankomme in meinem Leben zwischen den Zeiten. Ich renne so gern weg, aber das hier ist mein Zuhause. Ich höre das Surren des kleinen batteriebetriebenen Milchaufschäumers und die Schlussmelodie von
Clifford
, dem großen roten Hund. Meine Tochter springt auf, läuft in die Küche, und ich denke nicht mehr an gestern und vorgestern, nicht mehr an den Regensturm und nicht mehr an Berlin, sondern an den Tag – an den Text, den ich heute, in meinem kleinen Arbeitszimmer unterm Dach, beginnen werde zu schreiben, an die gescheiterten Weltrevolutionäre Gysi, Bunke und mich und auch daran, dass meine Frau und ich in unserer Mittagspause vielleicht zu
Yamato
gehen könnten, dem besten japanischen Restaurant in Park Slope. Ich bin jetzt da oder fast da, in diesem Moment, als das Telefon klingelt und mir Kerstin, meine Kollegin aus dem Büro in Manhattan, sagt, dass ein Loch im World Trade Center ist.
     
     
     
    D as Telefon klingelt. Alex geht ran.
    »Hi, Kerstin«, sagt er.
    Kerstin arbeitet im Spiegel -Büro in New York, so früh ruft sie nur an, wenn Alex wieder irgendwo hinfahren oder jemand aus Hamburg unbedingt mit ihm sprechen muss. Kein gutes Zeichen, dieser Anruf, zumal Alex, noch mit Telefon in der Hand, zum Fernseher läuft, die Fernbedienung vom Couchtisch nimmt und die Trickfilmfiguren wegschaltet.
    »Daddy, Daddy!«, schreit Mascha.
    »Was ist los? Warum lässt du sie nicht zu Ende sehen?«, frage ich, und noch während ich Mascha auf den Arm nehme, um sie zu trösten, sehe ich über ihren roten Haarschopf hinweg auf dem Bildschirm die verwackelte Aufnahme eines Turmes mit einer Antenne oben drauf. In einer Seite des Turmes ist ein Loch, aus dem Loch schlagen Flammen. Ich kenne den Turm und die Antenne, vor ein paar Monaten habe ich mit meiner Schwester, ihrem Mann, ihren und meinen Kindern dort auf der Aussichtsplattform in der Sonne gestanden. Es muss auch so etwa um diese Tageszeit gewesen sein, meine Schwester und ihr Mann sind Frühaufsteher.
    »Guck mal, Mascha, da waren wir mit Tante Katrin und Anton«, sage ich.
     
     
     
    E
s ist kurz vor neun. Kerstin ist heute früher im Büro, weil sie für ein paar Tage im Haus ihrer Eltern wohnt, um ihre kleine Schwester zu betreuen. Sie nimmt in dieser Zeit einen anderen Zug in die Stadt und ist gerade von Juliette angerufen worden, die zweimal die Woche in unser Büro in Midtown kommt, um die Bücher zu führen. Juliette

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