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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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aber Gysi – Anwalt, ostdeutsch, Jude, ein Mann mit Brüchen im Leben – interessiert Alex. Ich war ein wenig verspannt, als er wiederkam, erschöpft, ausgebrannt und glücklich seinen Koffer in den Flur stellte und die Kinder, die an ihm hochsprangen, umarmte. Irgendwann sah er über ihre Schultern zu mir, lächelte, kam auf mich zu, vergrub seinen Kopf in meinem Haar und gab mir einen Kuss.
    »Schön, wieder hier zu sein«, sagte er und ich sagte auch so was in der Art.
    Wir sind beide Journalisten, und wenn er so mit seinem Koffer in der Tür steht, erinnert er mich an das Leben, das ich nicht habe. Mein Erziehungsurlaub ist gerade abgelaufen. Wenn wir in Berlin geblieben wären, würde ich jetzt wieder in der Redaktion der Berliner Zeitung arbeiten, aber wir sind in New York. Mein letzter Text, ein Maximilian-Schell-Interview, wurde vor einem halben Jahr veröffentlicht. Kurz darauf sagte mir mein Chefredakteur, ein Korrespondentenvertrag für New York sei nicht drin, die Zeitung müsse sparen, und die Stadt sei nicht interessant genug. Mein Mann dagegen schreibt eine Spiegel -Geschichte nach der anderen, hat einen Roman veröffentlicht und schreibt eine wöchentliche Kolumne für die Berliner Zeitung .
    Meine Arbeit in New York ist momentan eher ein Hobby, das ich mir leiste, um zu Hause nicht durchzudrehen. Ich liebe meine Kinder, ich gehe mit ihnen in den Park, ich koche für sie, lese ihnen Geschichten im Bett vor und tröste sie, wenn sie traurig sind. Aber ich bin auch gerne bei mir, mache die Tür meines Arbeitszimmers hinter mir zu und versinke in den Geschichten, die ich schreibe. Je weniger ich das kann, desto mehr zerrt es an meinen Nerven, wenn die Kinder sich streiten, desto mehr langweilt es mich, mit meiner Tochter zehnmal hintereinander Old MacDonald had a farm zu singen. Wenn ich sie im Garten anschaukele, nehme ich mir ein Buch mit, auf dem Spielplatz lese ich Zeitung und fange mir strafende Blicke von New Yorker Müttern ein, die ihre Kinder nicht einen Moment aus den Augen lassen, ununterbrochen auf sie einreden und applaudieren, wenn ihnen etwas gelungen ist. Good job! Great! Do it again! Diese Mütter kommen mir manchmal vor, als hätten sie ihr vorheriges Leben, ihre Bildung, ihre Freunde, die Liebe zu ihrem Mann abgeschaltet. Sie arbeiten nicht, gehen abends nie weg, sie haben jetzt Kinder, das ist ihre Aufgabe, ihr neuer Ganztagsjob.
    Die New Yorkerinnen, die nach der Geburt ihrer Kinder wieder arbeiten, sind das andere Extrem. Sechs Wochen nach der Entbindung ziehen sie ihr Businesskostüm an und überlassen die Erziehung ihrer Kinder Nannys, die jeden Morgen aus der Bronx oder dem tiefsten Brooklyn anreisen und ihre eigenen Kinder in der Zeit Nachbarn oder Familienmitgliedern überlassen. Manche der Nannys haben ihre Kinder auch in ihrer Heimat bei Verwandten zurückgelassen, um in New York Geld zu verdienen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, warum so viele müde schwarze Frauen weiße Kinder in teuren McLauren-Buggies über die 7 th Avenue schieben. Neben den Supermarktverkäufern sind die Nannys fast die einzigen Schwarzen in unserem Viertel. Die meisten leben illegal in New York, haben keine Krankenversicherung und sprechen so schlecht Englisch, dass sie den Kindern, die sie betreuen, nicht mal ein Buch vorlesen können. Sie sind dafür da, die Kinder zu füttern, zu wickeln und sie zu Beschäftigungsprogrammen zu kutschieren. Turnen für Kleinkinder, Kinderyoga, musikalische Früherziehung.
    Debbie hatte mir auch mal eine Nanny vermittelt, ein paar Monate nach unserem Umzug. Die Nanny war eine hübsche junge Frau von einer karibischen Insel. Sie saß auf unserem Sofa, lächelte viel, sagte aber nichts. Ich zeigte ihr Maschas Zimmer, erklärte, wie die Murmelbahn funktionierte, bot ihr Kaffee an. Ich behandelte sie wie einen Hausgast. Die Nanny lächelte. Vielleicht verstand sie mich nicht, weil mein Englisch zu schlecht war, vielleicht war ihres nicht gut genug. Vielleicht war sie unsicher, vielleicht spürte sie, dass mich das Nanny-Prinzip nicht überzeugte. Ich finde, dass es Kindern gut tut, mit anderen Kindern zusammen zu sein, und ich kann mir nicht vorstellen, zu Hause zu arbeiten und durch die Tür Maschas kleine Stimme zu hören, ihr Lachen, ihr Weinen. Ich hätte ständig das Bedürfnis zu ihr zu gehen und würde keine einzige Zeile aufs Papier kriegen.
    Eine Nachbarin schlug vor, ich könne es ja auch mal bei Sunflower probieren. Sunflower ist ein

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