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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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vielleicht, aber doch wenigstens sichtbar. Ich bin 39 Jahre alt, ich bin noch da.
     
     
     
    I ch gebe Mascha einen Kuss, gehe in die Küche, gebe Alex einen Kuss. Er liest Zeitung und sieht überrascht auf, als würde er mich jetzt erst bemerken. Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich in den Artikel vertieft ist, den er gerade liest, oder nur so tut. Wir haben uns gestern Abend gestritten, weil er joggen ging, als das Abendbrot gerade fertig war. Ich hatte gekocht, zweimal sogar, Nudeln für die Kinder, Fisch mit Salat für uns, und genau in dem Moment, als alles fertig war, lief er in seiner Turnhose die Treppe herunter. »Nur ganz kurz«, rief er mir zu, bevor die Haustür hinter ihm zufiel. »Nur ganz kurz« war eine halbe Stunde, plus zehn Minuten Duschen. Da war das Essen kalt.
    Kurz nachdem er losgerannt war, fing es an zu stürmen, zu blitzen und zu donnern. Ich stand am Fenster und dachte an den Abend in Berlin, als ich mit einer Lungenentzündung im Bett lag und ihn bat, diesen Montag nicht zum Fußball zu gehen, nur diesen einen Montag mal zu Hause zu bleiben, um Ferdinand ins Bett zu bringen. Er ging, er spielte, er stürzte, er schlug sich einen Vorderzahn aus. Ich fand damals, dass das eine gerechte Strafe war, und hoffte, dass er in Zukunft in solchen Situationen andere Prioritäten setzen würde. Aber bald ging es wieder los. Fußball. Jeden Montagabend. Außerdem: Fußball am Mittwoch im Fernsehen, Fußball am Samstag und Sonntag im Fernsehen, Fußball im Urlaub, Fußball unter Ferdinands Hochbett, selbst auf unserer Hochzeit hat Alex die Hosenbeine seines Anzugs hochgekrempelt und ist mit den männlichen Gästen dem Ball hinterhergerannt. Ich finde, dass Fußball einen viel zu großen Platz in unserem Leben einnimmt. Und ich bin froh, dass es hier in New York keine Bundesligaübertragungen und keinen Montagsfußball gibt. Dafür gibt es aber den Park und den New York Marathon. Der Marathon ist der Fußballersatz.
    »Morning«, sagt Alex und strahlt mich an, und ich muss lachen. Ich würde ihn gerne ein bisschen um mich werben lassen. Aber ich kann nicht. Er hat dieses unschuldige, jungenhafte Lachen, mit dem er mich rumkriegt.
    »Morgen«, sage ich und gehe hinter den Tresen, um mir Kaffee zu machen, den guten alten Jacobs Kaffee, den wir uns aus Deutschland mitbringen lassen, weil mir der amerikanische zu bitter ist. Kaffee, Schokolade, Elmex, Mückenspray sage ich, wenn unser Besuch aus Deutschland fragt, was wir brauchen.
    Ich bekomme gerne Besuch. Für mich ist es eine willkommene Abwechslung in meinem Mutter-Kind-Alltag, und wenn es mir die Zeit erlaubt, begleite ich unsere Gäste nach Brooklyn Heights, nach Chinatown, Little Italy und Soho, zur Freiheitsstatue, aufs Empire State Building oder aufs World Trade Center. Ich habe fast alle Broadway-Musicals gesehen. Ich bin Mitglied im Aquarium von Coney Island und weiß, dass man vor zwei Uhr kommen sollte, um die Haifischfütterung nicht zu verpassen. Mafiainteressierte schicke ich an die Kreuzung in Brooklyn, wo Al Capone angeschossen wurde, und erzähle die Geschichte seiner Todesumstände.
    Alex ist der Besuch manchmal zu viel. Er muss für ihn sein Arbeitszimmer räumen und zum Schreiben ins Spiegel -Büro nach Manhattan fahren, in ein kleines, dunkles Zimmer auf einer Etage, auf der sonst nur Anwälte sitzen. Er ist nicht der Typ, der morgens mit Aktenkoffer in die Stadt fährt. Er verzieht sich lieber in sein Zimmer in der obersten Etage unseres Hauses und kommt runter, wenn er Hunger hat oder mit Ferdinand im Garten Fußball spielen will. Zum Schreiben braucht er Kaffee, eine knappe Deadline und einen Film, der ihn in Stimmung bringt. Deshalb verbindet er einen Besuch im Büro oft mit einem im Kino am Times Square. Ich merke das daran, dass sein Handy zwei Stunden aus ist, oft aber auch erst dann, wenn wir abends zusammen ins Kino gehen wollen und überlegen, welchen Film wir uns ansehen. Er kann mich nicht angucken, wenn er mir scheinbar beiläufig gesteht, dass er den Film, den ich gerne sehen würde, schon gesehen hat.
    »Wann hast du den denn schon wieder gesehen«, sage ich.
    »Ist schon 'ne Weile her«, sagt er, »da warst du gerade mit deiner Freundin unterwegs, glaube ich.«
    »Aber du weißt doch, dass ich den Film auch sehen wollte.«
    »Wenn du willst, guck' ich ihn nochmal mit dir.«
    »Ach, das ist doch total blöd, du kennst ja dann schon alles.«
    Es kommt selten vor, dass Alex einen Film zweimal sieht. Er hat unser

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