Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
wohnt 30 Meilen weiter nördlich am Hudson River und schaltet, sobald sie die Augen aufschlägt, das
National Public Radio
ein, den Deutschlandfunk Amerikas. NPR hat sofort vom Unfall im World Trade Center berichtet, Juliette hat Kerstin angerufen – und Kerstin hat die drei Redakteure informiert, die für den
Spiegel
in New York sind. Thomas im West Village, Jan in White Plains und mich in Brooklyn. Der
Spiegel
läuft wie ein Uhrwerk, in dem sich Privates und Berufliches mischt, jeder fühlt sich verantwortlich, jeder handelt irgendwie, und so schalte ich, am Ende der Informationskette des
Spiegel
, von
Channel 13
, wo jetzt
Jay Jay
läuft, die nächste Kinder-Morgenshow, auf
New York 1
um, den lokalen Nachrichtensender. Und da ist das Loch.
Es sieht klein aus und nicht sehr beeindruckend, technisch irgendwie, was aber auch an der seltsamen Kameraperspektive liegen kann, die sich nicht verändert. Es ist immer dasselbe Bild, starr, als würde man auf den Monitor einer Überwachungskamera schauen wie ein Pförtner. Darüber redet eine Moderatorin von einem Sportflugzeug,
one-engined
sagt sie, und das Wort »einmotorig« raubt mir jegliche Energie. Ich fühle mich von dem Loch belästigt. Es bedroht meinen kleinen Tagesplan, der mich nach dem Kaffee in mein Arbeitszimmer unters Dach führen sollte, wo ich mein Material sichten wollte, das Wichtige vom Unwichtigen trennen. All den Sand, den ich wochenlang gesammelt habe, wollte ich doch sieben, bis nur noch Gold da wäre – die Geschichte.
»Was ist denn?«, fragt Anja.
»Kerstin sagt, da ist ein Flugzeug ins World Trade Center geflogen«, sage ich. »Ein kleines.«
»Was?«
»Hier, guck doch mal.«
Wir schauen auf den Fernseher. Das Loch, klein, starr, technisch.
»Musst du da hin?«, fragt Anja.
Ich sage erstmal nichts. Ich habe keine Lust, da hinzufahren. Es ist Dienstag. Der nächste
Spiegel
erscheint am Montag. Sechs Tage. Bis dahin ist das Sportflugzeug im World Trade Center eine Meldung im Vermischten, denke ich. Vielleicht saß ein Prominenter im Cockpit, aber auch das rettet es nicht. Es hätte schon Präsident Bush sein müssen. Ich mache das, was ein Reporter eigentlich nicht machen sollte: Ich nehme die Geschichte vorweg, ich rede sie mir aus. Ich stelle mir vor, wie ich dort unten am Fuß des World Trade Centers stehe und hochschaue. Ich stelle mir vor, wie ich ein paar Statements von Feuerwehrleuten zusammentrage. Wie ich, weil sonst nichts passiert, die exakte Farbe des Himmels in meinen Block schreibe, Metaphern für die Form des Loches suche, die das Flugzeug in die Turmspitze gerissen hat. Ich werde dort unten stehen wie Egon Erwin Kisch an den brennenden Mühlen in Prag, weit weg, ohne Zugang, ohne Geschichte. Und deshalb werde ich nicht hinfahren, denke ich, aber ich spüre, wie etwas in mir zerrt. Etwas zerrt mich dorthin. Der Qualm auf dem Fernseher scheint dunkler zu werden, heftiger.
»Ich habe keine Lust«, sage ich.
»Versteh' ich«, sagt meine Frau.
A lex hat mir versprochen, erstmal ein paar Tage Pause zu machen, bevor er wieder loszieht. Er will zu Hause schreiben und bei den Kindern sein, die er so lange nicht gesehen hat. Seit wir aus Deutschland zurück sind, bin ich jeden Tag mit Mascha zu Hause gewesen, obwohl ich schreiben musste. Das ging gut, solange Ferien waren und Mascha mit ihrem Bruder und den anderen Nachbarskindern im Garten spielen konnte.
Aber nun hat Ferdinands Schule wieder auf und Maschas neuer Kindergarten Huggs immer noch zu, obwohl schon fast Mitte September ist. Morgen erst geht es los, mit einer Stunde Eingewöhnung von neun bis zehn Uhr. Am Donnerstag sind zwei Stunden vorgesehen, am Freitag drei, und ab nächsten Montag kann Mascha endlich wie vereinbart von 9 bis 16 Uhr dorthin gehen, vorübergehend, denn dann kommen die jüdischen Feiertage: Dienstag und Mittwoch Rosch Haschana, das jüdische Neujahr, und in der Woche darauf Yom Kippur – und Huggs hat wieder zu.
Wenn Alex wirklich nach Manhattan muss, könnte ich Mascha auch wieder zu Nina und Oksana bringen, denke ich. Das geht auch. Es geht ja immer irgendwie.
W
ir schauen auf den Fernseher. Es zerrt in mir. Irgendwas muss ich machen. Ich bin
Spiegel
-Reporter. Irgendwas machen, tun, sich verhalten wie ein Reporter.
»Ich geh' mal aufs Dach«, sage ich meiner Frau. Sie nickt.
Ich klettere durch die Luke im dritten Stock auf das Dach, von dem aus man die Türme sehen kann. Da ist eine schwarze Wolke, klein nur, aber
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