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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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deutlich sichtbar, sie weht nach links wie eine schwarze Fahne, ein Fähnchen eher. Auf dem Dach des Eckhauses stehen auch zwei Männer und schauen nach Manhattan. Ich habe etwas gemacht, eine kleine Szene, eine Beobachtung in einer Geschichte. Ich kann schreiben, dass ich auf dem Dach meines Hauses in Brooklyn stand und mich die Wolke an ein schwarzes Fähnchen erinnerte, ein Halbsatz für eine Kolumne. Ich fühle mich ein wenig besser, aber noch nicht erleichtert.
     
     
     
    C NN zeigt den brennenden Nordturm von allen Seiten, von Nahem und von Weitem. Eine Frau, die in Battery Park wohnt, sagt übers Telefon, sie sehe aus ihrem Fenster, wie Menschen aus dem Gebäude rennen und Feuerwehrleute hineinlaufen. Die Rauchwolke ist größer geworden, es sieht so aus, als ob sie direkt zu uns nach Brooklyn rüberzieht. Alex sagt, er würde mal aufs Dach gehen. Während er die Treppe hochläuft, gehe ich mit Mascha auf die Straße, vielleicht ist von dort ja auch was zu sehen.
    Draußen ist alles so ruhig wie immer um diese Zeit, wenn in der Berkeley Carroll School der Unterricht angefangen hat. Ein paar Mütter und Nannys stehen noch vor dem Eingang und reden – die Mütter mit den Müttern, die Nannys mit den Nannys. Ansonsten sieht die Straße aus wie jeden Dienstagmorgen: Auf einer Straßenseite stehen Autos, auf der anderen keine. Auf dem Bürgersteig versperren Mülltonnen den Weg, manche sind leer, manche voll, manche liegen quer über dem Gehweg.
    Dienstag ist Großkampftag in unserer Straße. Erst kommt die Müllabfuhr, dann kommt die Straßenreinigung, und später rücken auch noch die blauen Recyclingfahrzeuge an, die Flaschen und Papier abholen. Im Gegensatz zu Berlin kommen die Müllmänner nicht ins Haus, man muss die Tonnen selbst auf die Straße stellen und rechtzeitig wieder reinstellen, bevor die Hundebesitzer die Chance bekommen, ihren Dogpoop reinzuwerfen, der, wenn es heiß draußen ist und die Müllmänner nur die großen Beutel aus den Tonnen nehmen, unter unserem Wohnzimmerfenster vor sich hinstinkt.
    Nebenan fällt eine Tür ins Schloss. Eine Sekunde später taucht Kate, unsere Nachbarin, neben der Vortreppe ihres Hauses auf. Sie trägt Jeans und ein langes Shirt, in der Hand hält sie einen Kaffeebecher. Ich winke ihr zu.
    »Hi Anja, hi Mascha«, ruft Kate, »no Huggs today?«
    Mascha schüttelt den Kopf.
    »Morgen ist der erste Tag«, sage ich.
    »Stimmt ja, Huggs fängt immer so spät an. Maeve kommt um drei aus der Schule. Dann könnt ihr im Garten spielen.«
    Kate fragt, wie es mir geht. Ich frage, wie es ihr geht.
    »Gut«, sage ich.
    »Not bad«, sagt sie.
    Ich weiß nie so richtig, woran ich an ihr bin. Kate ist anders als Debbie, unverbindlicher. Das erste Mal habe ich sie ein paar Tage nach unserem Umzug nach New York gesehen, es war kurz vor Weihnachten. Ich ging gerade mit den Kindern aus dem Haus, als nebenan zwei Hunde, ein kleines blondes Mädchen und eine Frau mit einer Schürze um den Bauch und einem Holzlöffel in der Hand aus der Tür stürzten. Die Frau hatte schulterlange mittelblonde Haare und erinnerte mich an Meg Ryan. Als sie uns sah, blieb sie stehen und begrüßte uns überschwänglich. Ja, sie habe schon gehört, dass eine deutsche Familie nebenan einziehe. Es sei sooo schön, uns endlich kennenzulernen. Sie sei Kate, das sei ihre Tochter Maeve und das seien Frieda und Maggie. Sie zeigte auf das blonde Mädchen und dann auf die beiden Hunde, einen kleinen wuscheligen schwarzen und einen gescheckten mit langen Ohren und Hängebauch. Kate buk gerade Gingerbreadmen , Lebkuchen mit Ingwer, sie werde uns später welche rüberbringen, versprach sie.
    Ich war fest davon überzeugt, gerade meine neue beste Freundin kennengelernt zu haben, aber irgendwie kamen wir nicht weiter. Immer, wenn ich dachte, wir waren uns näher gekommen, ging sie wieder auf Distanz und flüchtete sich in »Wie geht es den Kindern?« – »Was für ein schöner Tag« – »Oh, ich wünschte, es wäre endlich Frühling«-Smalltalk. Sie und ihr Mann sind Schauspieler, jeder in der Nachbarschaft kennt sie, vielleicht liegt es daran.
    Terry ist gerade in der HBO-Serie Oz zu sehen. Kate spielt die Kommissarin in Law & Order . Normalerweise wird Kate morgens um sechs mit einer großen schwarzen Limousine abgeholt und erst spätabends wieder zurückgebracht, während ihre Nanny auf ihre Tochter aufpasst.
    Heute ist kein Drehtag, heute muss Kate nach Manhattan zum Nachsynchronisieren einer Folge, sagt sie.

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