Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
manchmal von einer Sekunde auf die andere nichts mehr wert sind, die Tagespläne, die Dinnerpläne, die Geburtstagspläne und die Urlaubspläne. Im letzten Sommer bin ich an unserem ersten Urlaubstag nach Kuba geflogen, um eine Geschichte über den Boxer Teófilo Stevenson zu recherchieren. Wir hatten Berliner Freunde zu Besuch, die mit uns nach Montauk fahren wollten, aber ich musste weg. Stevenson ist ein Held meiner Jugend und er konnte nur in jener Woche. Ich habe das meinem Freund erzählt, der über den Atlantik geflogen war, um mit mir zusammen zu sein. Er hat mich verstört angesehen. Ich habe ihn flehend angesehen. Er hat den Kopf geschüttelt, und ich bin einfach gegangen. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Manchmal ist das so. Anja weiß das und ich weiß das – die Frage ist, ob wir es jetzt trotzdem nochmal durchspielen. Ob wir eines dieser Gespräche beginnen, dessen Ende wir beide kennen, und es dennoch führen, um Luft abzulassen oder Claims für andere, spätere Gespräche abzustecken oder weil wir die Stille einfach nicht ertragen.
»Ich muss doch los, glaube ich«, sage ich, lege das Telefon weg und gehe nach oben, um mich fertig zu machen. Anja sieht mir hinterher. Sie sagt nichts. Ich bin dankbar, aber auch ein bisschen misstrauisch.
I ch höre, wie Alex aus seinem Zimmer in der dritten Etage in mein Arbeitszimmer in der zweiten läuft und in meinen Schränken sucht, wie er flucht, in Ferdinands Zimmer geht und zurück in meins.
»Weißt du, wo ein Block ist?«, ruft Alex nach unten.
»Keine Ahnung«, sage ich.
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht.«
Es ist die Wahrheit, oder zumindest ein Teil der Wahrheit, denn mir fällt in der Tat nicht ein, wo wir noch einen leeren Block haben sollten. Aber selbst wenn ich es wüsste, würde ich Alex noch ein wenig zappeln lassen, das ist der andere Teil der Wahrheit. Ich hasse es, wenn er an meine Sachen geht. Er ist der unordentlichste Mensch, den ich kenne, und obwohl er so einen Anruf wie den von Kerstin jederzeit bekommen kann, ist er nie darauf vorbereitet. Er plant nicht gerne. Er lässt die Dinge auf sich zukommen, in dem kindlichen Grundvertrauen, dass sich alles schon regeln wird. Und meistens regelt sich ja auch alles.
Als wir vor ein paar Jahren in den Florida-Urlaub fliegen wollten, kam er eine halbe Stunde vor der Abfahrt zum Flughafen aus dem Büro gehetzt, packte seinen Koffer, während sein großer Sohn Florian, Ferdinand und ich mit unserem Gepäck bereits unten in der Diele warteten. Wir hätten es gerade so geschafft, aber dann fand Alex seinen Pass nicht. Er rannte durch die Wohnung, suchte in allen Zimmern, in allen Taschen und Schränken, zog die Schubfächer raus, tobte, fluchte. Der Pass war weg, und inzwischen auch das Flugzeug, er fand seinen Pass ein paar Stunden später, in einem der Schubfächer, in denen er zuerst gesucht hatte. Wir flogen einen Tag später.
So ist es oft. In unserer Familie gelten wir als Unsicherheitsfaktor. Wir sind dafür bekannt, zu spät zu Familienfeiern zu kommen. Wenn wir selbst eine ausrichten, steht das Abendessen selten vor 22 Uhr auf dem Tisch. Der Weihnachtsbaum wird am 24. Dezember gekauft, danach geht Alex los und kauft Geschenke. Er ist immer der Letzte, er zögert Entscheidungen bis zum Schluss hinaus, und man weiß nie, ob er es sich nochmal anders überlegt. Unsere Eheringe hat er am Vorabend unserer Trauung fünf Minuten vor Ladenschluss von einem Boten abholen lassen, weil er noch eine Geschichte fertigschreiben musste. Seine Hochzeitsschuhe kaufte er auf dem Weg zum Standesamt. Am Tag, als bei mir die Wehen anfingen, ist er nach Rostock-Lichtenhagen gefahren, um über Neonazis zu berichten, die ein Ausländerheim angezündet hatten. Nach Ferdinands Geburt, ich war noch im Krankenhaus, stieß er mit ein paar Freunden auf unseren Sohn an, als Taxifahrer ins Restaurant kamen und erzählten, einer ihrer Kollegen sei gerade ermordet worden. Alex ließ seine Freunde sitzen und fuhr mit einem der Taxifahrer zum Tatort. Auf dem Weg nach Hause überfuhr er eine rote Ampel, wurde von der Polizei gestoppt und verlor seinen Führerschein. In solchen Momenten merkt er, dass er an seine Grenzen kommt, dass sein System nur bedingt funktioniert. Er boxt gegen Wände, knallt seinen Laptop in die Ecke, wird immer wütender, und ich werde immer ruhiger. Ich warte darauf, dass es vorbei ist, dass er vor mir steht und grinst und es ihm wieder gut geht. Komischerweise kann ich
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