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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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Sie ist auf dem Weg zur Subway.
     
     
     
    A
nja steht auf dem Bürgersteig. Sie redet mit Kate, unserer Nachbarin. Ich schaue die Straße rauf und runter, man sieht nichts, alles ist wie immer. Dann gehe ich nach unten auf den Bürgersteig zu den Frauen und erzähle ihnen von der kleinen schwarzen Fahne, die man vom Dach aus sieht. Kate ist auf dem Weg nach Manhattan. Sie weiß von keinem Loch im World Trade Center. Sie hat nicht Juliette und nicht Kerstin und nicht das
Spiegel
-Getriebe. Sie hat Terry, ihren Mann, und der schläft noch.
    Kate und Terry haben sich in der
Steppenwolf Theatre Company
in Chicago kennengelernt, die Terry zusammen mit John Malkovich und Gary Sinise gegründet hat. Sinise und Malkovich waren schon mal für den Oscar nominiert, Terry noch nicht. Aber er ist trotzdem der berühmteste Amerikaner, mit dem ich privat verkehre. Er hat bei
Sleepers
mitgespielt, wo auch Robert De Niro und Brad Pitt mitmachten, und er ist mit Matt Damon befreundet. Ich habe sowohl Kate als auch Terry schon in deutscher Synchronisation gehört und ich habe mit den beiden mal einen Joint in ihrem Keller geraucht. Danach haben wir dort unten Tischtennis gespielt, was sehr lustig war. Wir kommen uns immer mal ganz nahe, reden, essen und trinken zusammen, aber dann ziehen sich Kate und Terry wieder zurück. Ich vermute, es ist so eine Prominentensache, die Sehnsucht nach Wirklichkeit einerseits und die Angst davor andererseits. Es gibt Wochen, da scheinen sich die beiden regelrecht in ihrem Haus zu verschanzen. Als ich Kate das erste Mal sah, hat sie mir erzählt, wir sollten im Park vorsichtig sein, es gebe da böse Menschen. Sie hat wirklich BÖSE Menschen gesagt. Terry betritt manche Etagen seines Hauses nicht gern, weil da schlechte Schwingungen herrschen, wie er sagt. Sie haben Kerzen aufgestellt, um den Geist des Vorbesitzers zu vertreiben, der in dem Haus gestorben war. Sie haben die aufwändigste Alarmanlage im gesamten Block, aber weil sie so sensibel ist, dass selbst Terrys fast lahme Hündin Maggie sie manchmal mitten in der Nacht auslöst, stellt er das Gerät nachts ab. So ist ihr ganzes Erdgeschoss vor ein paar Wochen ausgeraubt worden, während Kate, Terry und ihre Tochter schliefen, und ihre Hündin Maggie wohl auch. Manchmal steht Terry mit einer Zigarette in seinem Vorgarten und guckt die Straße vorsichtig hoch und runter, als erwarte er, demnächst von irgendjemandem angegriffen zu werden.
    Kate und Terry machen Aktionen. Sie nehmen sich Dinge vor, manchmal kleine Dinge, wie, sagen wir mal, weniger Wein zu trinken, manchmal größere, wie ein aktiveres Sozialleben zu führen. Im vorletzten Sommer haben sie ihre Terrasse ausgebaut, im Garten ein paar Fackeln, eine kleine Sitzgruppe und eine antike Figur aufgestellt. Sie haben Freunde und Nachbarn eingeladen, um das zu feiern, es gab Champagner und ein Barbecue, und dann ist das Sozialleben von Kate und Terry sofort wieder eingeschlafen. Ich habe weder Terry noch Kate noch sonst irgendjemanden jemals auf der Sitzgruppe neben der antiken Figur sitzen sehen. Im letzten Frühjahr hat Terry zusammen mit seiner Familie einen Baum auf dem Bürgersteig gepflanzt, der für irgendetwas stehen sollte, wofür, habe ich inzwischen vergessen. Kurz danach hat Terry sein Brownstonehaus hellblau anmalen lassen. Es sieht ganz furchtbar aus, und er weiß das auch. Er lacht darüber. Ich mag Kate und Terry sehr. Ich habe das Gefühl, sie zu verstehen.
    Kate muss in Manhattan eine Folge von
Law & Order
nachsynchronisieren, sagt sie. Wir erzählen ihr von dem Flugzeug im World Trade Center. »Dann fährt die rote Subway sicher nicht«, sagt Kate. Das ist alles, was sie sagt. Sie denkt nicht an eine Katastrophe, sie denkt an die U-Bahn. »Die rote Linie führt ja direkt unterm World Trade Center entlang«, sagt Kate. »Dann gehe ich besser zum R-Train.« Sie macht kehrt und geht die Carroll Street runter in Richtung 4 th Avenue, wo die R-Linie der New Yorker Subway fährt. Ich stehe mit Anja noch einen Moment da, ruhiger jetzt, da nicht mal Kate beunruhigt ist, Kate, die sofort anfängt, Lebensmittel und Wasser in ihrem Keller zu bunkern, wenn der Wetterbericht Schnee vorhersagt. Ich glaube, ich muss nicht los. Wir gehen zurück ins Haus, und als wir die Tür schließen, donnert es in der Ferne, ein dumpfer Knall. Für einen Moment scheint die Welt zu schwingen, ein leichtes Zittern fährt in die alten Dielen und Wände unseres Hauses. Ich sehe Anja an, und Anja sieht

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