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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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fotografiert worden, auf der Terrasse am Fuße der Brooklyn Bridge. Es sollte das Klappenfoto für ein kleines Buch mit meinen New Yorker Kolumnen werden, das im Oktober erscheint. Ich trage ein Jackett und ein weißes Hemd und hinter mir stehen die Türme des World Trade Centers. Ein bisschen symbolisch, aber man weiß sofort, dass es New York ist. Der Verlag hat dann aber ein anderes Foto genommen, das mich auf dem Times Square zeigt, etwas verwischt, zwischen lauter wirbelnden Menschen. Es sah nicht ganz so offiziell aus, sagte der Verleger. Wahrscheinlich wollen sie ein anderes Image von mir. Sie wollen jemand
in
der Stadt zeigen, nicht
vor
der Stadt. Sie wollten keinen, der ankommt, sondern einen, der schon da ist. Jemanden, der sich auskennt und trotzdem kein Sakko trägt. Vielleicht hätte man das andere Foto jetzt auch gar nicht mehr verwenden können, denke ich. Es qualmt wirklich sehr.
    »Ich glaube, ich fahr mal hin«, sage ich zu Kerstin.
    »Thomas ist auch schon losgefahren«, sagt sie, und das gibt mir den letzten Schubs.
    Thomas ist mein Reporterkollege beim
Spiegel
. Er war schon seit einem Jahr da, als ich im Herbst 1999 in New York ankam. Auch für ihn war es ein Traum, in dieser Stadt zu leben. Er hat lange darauf gewartet, hier arbeiten zu können – einmal hatte ihm jemand in letzter Sekunde die Stelle weggeschnappt. Ich glaube, er war ein wenig verwundert, als ich im Büro auftauchte. Wir sind fast gleich alt, wir interessieren uns für ähnliche Themen. Ich kam aus dem Nichts.
    Er hat mir das nie gezeigt. Er hat mich empfangen wie ein guter Gastgeber. Er hat mich zu Konzerten mitgenommen und mir erzählt, worauf ich achten muss in der neuen Welt von
Spiegel
und New York. Zu meinem ersten Thanksgiving, als ich noch allein in Amerika war, hat mich Thomas nach Long Island eingeladen, wo er den Feiertag mit seiner Familie im Haus eines Freundes verbrachte. Wir trinken manchmal ein Bier zusammen, gucken ein Fußballspiel in einer englischen Kneipe auf der Lower East Side, gehen essen und einmal waren wir mit unseren Kindern im Giants Stadium in New Jersey, um uns Lothar Matthäus anzuschauen. Was die Arbeit angeht, kommen wir uns nicht in die Quere. Es ist Platz genug für zwei Reporter im New Yorker Büro, aber natürlich beobachten wir uns. Wir interessieren uns für ähnliche Dinge. Manchmal sehe ich, wie es hinter seiner Stirn arbeitet, während wir miteinander reden, vor allem, wenn wir über die Arbeit reden. Ich erzähle ihm irgendwas, und ich merke, wie es ihn in Gedanken wegtreibt. Neulich haben wir mitten in der Nacht eine Stunde lang darüber diskutiert, wer von uns beiden nach Idaho fliegt, wo sich ein verrückter Familienvater mit einem Sack voll Kinder, seiner toten Frau und jeder Menge Waffen in einem Haus verschanzt hatte. Einer von uns sollte es machen, hatte unser Ressortleiter in Hamburg gesagt. Es war wirklich nachts um drei und wir konnten es nicht entscheiden. Glücklicherweise hat der Verrückte am nächsten Morgen aufgegeben, und wir haben nicht mehr darüber geredet. Aber jetzt, in diesem Moment, spüre ich den Druck, der von Kerstins Satz ausgeht: Thomas ist schon losgefahren. Es gibt nur dieses eine Ereignis. Ich habe immer noch keine Lust, dorthin zu fahren, ich sehe immer noch keine Geschichte, aber ich will auf keinen Fall zu spät kommen. Das höchste Haus der Stadt brennt. Ich will nicht auf der anderen Seite des Flusses stehen und zu ihm rüberschauen. Ich will mit im Bild sein.
    Anja sieht mich an, dann den Fernseher, dann wieder mich. Sie sieht erregt aus, aber auch enttäuscht. Ich glaube, sie weiß, dass ich nun doch losrenne. Ich habe noch das Telefon in der Hand. Ich wackle hin und her. Anja schaltet mit der Fernbedienung zu anderen Kanälen, die brennenden Türme sind jetzt fast überall zu sehen, die Bilder selbst greifen über wie ein Buschfeuer. Sicher wird gleich jemand aus Hamburg anrufen, denke ich. Ich kann denen schlecht erklären, dass ich an einem Porträt über Gregor Gysi arbeite, während das World Trade Center brennt. Ich kann es vor allem mir selbst nicht erklären. Das geht nicht, und das weiß auch Anja. Sie ist selbst Reporterin, und das ist, glaube ich manchmal, ein Grund, warum wir immer noch zusammen sind.
    Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt. Sie begreift mich. Sie versteht mich im Herzen. Sie weiß, wie abwesend und asozial und rücksichtslos man wird, wenn man einer Geschichte folgt. Sie weiß, dass all die schönen Pläne

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