Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Geschichtenerzählen, diese Chance des Reporters, mit Menschen zu reden, die er sonst nie im Leben kennengelernt hätte. Und niemand konnte diese Freude so gut mit mir teilen wie Alex. Wenn wir abends ausgingen, erzählten wir uns, welche Geschichten wir ausgegraben hatten, stundenlang. Jeden Tag passierte etwas Neues in der Stadt. Darüber müsste man mal was machen, war der Satz, der am häufigsten fiel. Das ist heute nicht viel anders. Wir sitzen am Küchentisch und erzählen uns die Geschichten der Menschen, die wir getroffen haben, versuchen ihre Motive zu verstehen, fragen uns, wie wir uns verhalten hätten in ihrer Situation. Es gibt keine Trennung in Privates und Dienstliches, kein Thema, das zu Hause nicht besprochen wird. Vielleicht ist das die wichtigste Stütze in unserer Beziehung, dieses Grundverständnis füreinander, für die Leidenschaft des anderen. In letzter Zeit reden wir vor allem darüber, was Alex schreibt, wann er wegfährt und wann er zurückkommt. Ich schreibe ja kaum noch.
Die Realität sickert ein. Ninas Kindergarten ist in Cobble Hill, gerade mal einen Kilometer Luftlinie vom World Trade Center entfernt, auf der anderen Seite des East Rivers, genau dort zieht der Qualm hin. Nina ist eine Schnapsidee. Ich bleibe zu Hause.
Ich lächele Alex an und sage: »Nee, lass mal. Geh los. Ich bleibe lieber hier mit Mascha.«
Ich weiß nicht, was sie da in der Schulung in Bonn den mitreisenden Ehefrauen erzählen, aber ich bin sicher, wenn das hier ein interaktives Rollenspiel wäre, hätte ich die volle Punktzahl bekommen.
»Ach, Anni«, murmelt Alex erleichtert und nimmt mich in die Arme. Er kann endlich los, und ich bin eine gute Mutter. Er sagt, dass er ja viel lieber hierbleiben würde, dass er mich von unterwegs anrufen werde, wirft seinen Rucksack mit meinem Englischheft darin über die Schulter und rennt los. Ich stehe mit Mascha in der Tür, sehe ihm hinterher und beneide ihn. Für die Möglichkeit, einfach wegzugehen.
I
ch küsse meine Frau und renne zu unserem Auto, das in der zweiten Reihe steht. Sie hat den Kopf leicht zurückgezogen, als ich sie küsste, eine winzige Geste der Missbilligung nur, aber ich habe sie verstanden, und sie weiß, dass ich sie verstanden habe. Ich bin nicht in Frieden gegangen, ich habe mich losgerissen. Ich gehe fast nie in Frieden. Ich fühle mich erleichtert, von der Leine gelassen, aber am Ende dann doch wie ein Hund.
Ich rase die Carroll Street nach unten, in Richtung 4 th Avenue, den Weg, den Kate vor zwanzig Minuten gegangen ist. Es ist eine schöne, schmale Straße, die von unserem Park aus bis nach Cobble Hill führt. Man kann hier vergessen, dass man in einer großen, wilden Stadt lebt, aber spätestens auf der 4 th Avenue weiß man es dann wieder. Die 4 th Avenue ist breit, laut und von Tankstellen, Werkstätten und Lagerhallen gesäumt.
Als ich dort ankomme, spüre ich eine leichte Veränderung. Die 4 th Avenue stampft nicht mehr so gedankenlos. Die Zeit scheint langsamer zu laufen, träger, dickflüssiger. Es gibt kaum Autos auf der breiten, dreispurigen Straße und auf den Bürgersteigen stehen Menschen und sehen hinüber zu den brennenden Türmen. Zwei kräftige, schwarze Fahnen wehen am hellblauen Septemberhimmel. Sehr seltsam, hier in der unruhigen, lärmenden Straße langsame, staunende Menschen zu sehen. Im Autoradio höre ich, während ich ostwärts rolle, zum ersten Mal die Wörter
terrorists
und
attack
und
president
in einem Satz. Sie ergeben keinen Zusammenhang in meinem Kopf, aber sie beschleunigen mich. Ich darf wirklich nicht zu spät kommen.
U nser Haus kommt mir plötzlich sehr groß, sehr ruhig und sehr leer vor. Alex ist weg, ich bin wieder allein, nur die Spuren seines Aufbruchs sind noch da. Das offene Schuhregal, die halbvolle Kaffeetasse auf dem Couchtisch, die ausgebreitete New York Times in der Küche, durchwühlte Regale in meinem Zimmer, herausgerissene T-Shirts in der Kleiderkammer, ein Handtuch auf dem Fußboden im Bad, die Schalen seiner Kontaktlinsen auf dem Waschbecken, die offene Tür zum Dach, es sieht aus, als wäre ein Einbrecher durchs Haus gegangen.
Ich gieße den Kaffee ins Spülbecken, schließe den Schuhschrank und die Dachtür, ordne meine Unterlagen, hebe das Handtuch auf, lege die Shirts zurück in den Schrank. Langsam fühle ich mich besser.
Ich bin eigentlich gerne allein, ich werde nur nicht gerne alleingelassen, so schnell, so unvermittelt. Mir ist es wichtig, dass ich
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