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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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mich an, es ist kein Schrecken in ihrem Blick, eher Neugier und dann höre ich, wie die Stimme der Moderatorin auf
New York 1
lauter wird, sie kippelt und schriekst und dann klingelt das Telefon wieder.
     
     
     
    D en Knall höre ich, als wir ins Haus zurückgehen, es ist ein dumpfes Geräusch, das die Erde zittern lässt, als sei ein Blitz eingeschlagen oder ein paar Straßen weiter ein Haus gesprengt worden. Kurz darauf klingelt das Telefon. Kerstin schon wieder.
    »Ach, du Scheiße«, sagt Alex und starrt auf den Fernseher, wo das World Trade Center jetzt nicht nur in den oberen Etagen brennt, sondern auch weiter unten und dahinter. Irgendwie muss das Feuer vom ersten Turm auf den zweiten übergesprungen sein.
    Alex sagt, Kerstin sei total aufgelöst gewesen, es habe noch eine Explosion gegeben. Er ist auch nicht mehr so ruhig wie gerade eben noch. Ein Flugzeug im World Trade Center ist vielleicht noch ein Unfall, ein Flugzeug und eine Explosion sind eine Katastrophe – und eine Katastrophe ist eine Geschichte. Das verändert die Lage, auch seine Lage. Alex rennt die Treppen nach oben und sucht seine Sachen zusammen.
    Ich bleibe mit Mascha unten und fühle mich wie gelähmt, wie immer, wenn etwas passiert, worauf ich keinerlei Einfluss habe. Die Dinge ziehen an mir vorbei, alles bewegt sich um mich herum, und ich erstarre. Gerade schien noch alles unter Kontrolle zu sein, der Tag hatte eine Ordnung, einen Rhythmus. Jetzt fällt alles auseinander, so kommt es mir zumindest vor, als ich hier stehe und Alex da oben rumort. Ob ich da bin oder nicht, ob ich etwas sage oder schweige, die Dinge nehmen ihren Lauf. Ohne mich. Ich will auch etwas tun, mich bewegen, mitrennen, aber ich kann nicht. Es ist wie früher im Sportunterricht, wenn zwei Kinder aus unserer Klasse Mannschaften auswählen mussten und ich inständig hoffte, dass endlich mein Name genannt werden würde, dass mich jemand erlöst.
     
     
     
    D
iesmal klingt Kerstin anders, schockiert und auch hilflos, ich habe das Gefühl, sie weint, und das ist seltsam, weil ich mir Kerstin aus irgendeinem Grund nicht weinend vorstellen kann. Sie ist eine energische, junge Frau, die im Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern aus Hessen nach New York gezogen ist und seitdem versucht, in der neuen Welt Fuß zu fassen, ohne die alte völlig zu verlassen. Sie krallt sich zwischen den Leben fest. Die Deutsche in ihr ist schwerblütig und gründlich, die Amerikanerin schnell und unverbindlich. Sie sitzt an einem winzigen Schreibtisch in dem Penthouse, das der
Spiegel
in der Fifth Avenue gemietet hat. Penthouse klingt beeindruckend, in Wirklichkeit ist es eher eine Art Kleinbungalow, der auf einem alten fünfzehnstöckigen Haus steht.
Pre-war building
nennen sie das, die New Yorker Klassik. Der Bungalow ist eng, flach und verrumpelt, aber von einer großen Terrasse umgeben. Man sieht im Osten auf die Grand Central Station und auf das Chrysler Building, im Westen erkennt man den Times Square und im Norden einen Zipfel vom Central Park, die Sicht nach Süden allerdings ist verbaut. Man kann das World Trade Center von unserem Büro nicht erkennen, vielleicht sieht man den Rauch. Ich stelle mir vor, wie Kerstin dort am Fenster steht und nach Süden schaut. Unsere Bürochefin Angelika ist in Deutschland, Kerstin führt die Geschäfte von ihrem winzigen Schreibtisch aus. Es ist auch eine Chance, wie jede Katastrophe immer auch eine Chance ist. Man begreift es nicht sofort, aber man spürt es.
    Ein Foto vor den Türmen, das jetzt nicht mehr passt.
    »Jetzt brennt auch der andere Turm«, sagt sie.
    »Warum denn das?«, frage ich.
    »Da ist irgendwas übergesprungen«, sagt sie. »Eine Leitung soll explodiert sein.«
    Ich schaue auf den Fernseher. Es qualmt jetzt viel stärker, man kann den zweiten Turm nicht richtig erkennen, er wird vom ersten halb verdeckt. Wahrscheinlich ist es schwer, eine Kameraperspektive zu finden, aus der man beide Türme zusammen und in voller Größe filmen kann. Brooklyn Heights wäre ein guter Standort, denke ich, die Promenade. Es war lange Zeit der beeindruckendste Platz in der Stadt, den ich kannte. Wir fuhren da in unserem ersten New Yorker Winter oft hin, um den Kindern und auch uns immer wieder zu zeigen, dass wir an einen ganz besonderen Ort gezogen waren. Es ist der Blick, den man braucht, wenn man in der neuen Welt ankommt. Der Blick vom Wasser auf die Stadt, der einem einredet, dass sich die Reise gelohnt hat. Vor ein paar Wochen bin ich so

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