Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
geredet. Dann öffnet sich der Boden unter uns. Ich weiß das, aber manchmal kann ich nicht anders. Ich stehe so tief in meiner Ecke, dass ich um mich schlage. Ich will dann keine Verantwortung mehr, ich will alleine leben, und natürlich will ich Recht haben. Ich will gewinnen. Das Scheißgeld ist mir eigentlich egal, aber es ist immer ein schnelles Argument. Der
Spiegel
zahlt Mietzuschuss, und ich bin hier der
Spiegel
-Reporter, nicht du, aber das hat natürlich alles nichts mit uns beiden zu tun. Nichts mit unseren Wünschen, unseren Zwängen, unseren Zweifeln.
Wir haben einmal zusammen über eine Gefängnisrevolte in Berlin-Rummelsburg berichtet. Das ist jetzt elf Jahre her – 1990. Es war das Jahr, in dem wir uns kennenlernten. Es war das Jahr der Anarchie. Das Land, in dem wir groß geworden waren, löste sich auf und mit ihm die Beziehungen, in denen wir beide bis dahin gelebt hatten. Für ein paar Monate gab es keine Regeln. Sie ließen uns einfach in den Knast hinein zu den aufständischen Gefangenen. Anja war Anfang 20 damals, furchtlos, schön und neugierig. Ich war Ende 20 und trug eine ostdeutsche Damenbrille, die ich mir grün angemalt hatte, um ein bisschen anders auszusehen als die anderen. Die Häftlinge wollten lieber mit Anja als mit mir reden. Ich war überflüssig in der Rummelsburger Nacht und habe das sehr genossen. Anja hatte eine Zigarette in der einen Hand und den Stift in der anderen und hörte geduldig den abenteuerlichen Geschichten der ostdeutschen Kriminellen zu, bis der Morgen graute. Ich hätte ihr ewig dabei zusehen können, weil sie eine junge Frau zu sein schien, die genau das tat, wozu sie auf der Welt war. Sie war in ihrem Element. Sie war eine Frau, die mich nicht brauchte. Ich wollte immer eine Frau, die mich nicht braucht.
A ls Alex nach all dem Gerumpel und Gepolter dort oben wieder zu mir herunterkommt, hat er ein hellblaues Oberhemd an und ein kleines schwarz-weißes Notizbuch in der Hand. Er will es gerade in seinen Rucksack stopfen.
»Das ist mein Englischheft«, sage ich.
»Ich weiß«, antwortet er und guckt zur Seite, weil er mir nicht in die Augen sehen kann.
»Bitte Anni, ich muss jetzt gehen und ich brauche was zum Schreiben.«
»Ehrlich gesagt überlege ich gerade, ob ich mitgehe«, sage ich.
Alex guckt mich überrascht an. Ich bin auch überrascht. Ich wollte das nicht sagen. Es ist mir einfach so rausgerutscht. Aber jetzt, wo es gesagt ist, ist es eine Möglichkeit. Ich bin die Frau des Spiegel -Korrespondenten, die ihm den Rücken freihält und sich um die Kinder kümmert, aber ich bin auch Reporterin, ich bin in New York, und hier brennt das World Trade Center, die höchsten Häuser der Stadt, ihr Wahrzeichen. Der Druck in mir, die Lähmung löst sich.
»Ich könnte was für die Berliner Zeitung schreiben«, sage ich.
»Und Mascha?«, fragt Alex, während er sich die Schuhe zubindet.
»Könnte ich zu Nina bringen«, sage ich, ohne mich fertig zu machen oder umzuziehen. Ich trage ein Sommerkleid und Flipflops, nicht gerade das geeignete Katastrophenberichterstatter-Outfit für Manhattan.
»Na, dann komm«, sagt er. »Aber schnell.«
Ich müsste jetzt sofort anfangen, mich umziehen, meine Sachen zusammensuchen. Ich bin eine Verzögerung. Ein Hindernis. Und Nina ist ein Umweg. Alex würde Zeit verlieren. Noch mehr Zeit. Es wird sowieso nicht leicht, jetzt nach Manhattan zu kommen. Die Subways fahren garantiert nicht mehr, wer weiß, ob die Brücken offen sind. Alex steht an der Tür, und ich müsste mich jetzt wirklich sehr beeilen. Wir haben ewig nichts mehr zusammen recherchiert, das letzte Mal vor elf Jahren, als in Berlin-Rummelsburg ein Häftling auf einem Schornstein saß, weil er nicht von seinem Ost- in ein Westgefängnis verlegt werden wollte. Die Mauer war gerade gefallen, ich war Anfang 20 und Studentin, aber statt zu studieren, schrieb ich Geschichten aus dieser wilden Zeit. Alex war schon fertig mit dem Studium und von heute auf morgen Lokalchef der Berliner Zeitung geworden, ein 27-jähriger Chef mit langen Haaren und einer großen grünen Brille. Er rauchte viel, war abends immer der Letzte im Büro, manchmal schlief er sogar dort, und wenn er keinen Autor für eine Geschichte fand, schrieb er sie selbst. Er war ein Chaot, der unorganisierteste Chef, den ich je hatte, aber er hatte die besten Ideen und er konnte wunderbar schreiben. Ich habe mich sofort in ihn verliebt.
In dieser Zeit entdeckte ich den Spaß am
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