Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
zu flicken wie die Schlaglöcher in den New Yorker Straßen. Das ist vorbei. Ich stehe mitten auf der Brücke, sehe auf die Wolke, in der der Turm versinkt, und bin nun, in diesem Moment, auch jemand aus dem eingeschlafenen Hofstaat Dornröschens, den ich vorhin aus meinem Auto beobachtet habe. Ich stehe ganz still und sehe die Menschen um mich herum ebenfalls stillstehen. Wir halten eine Schweigeminute. Die schwarze Frau neben mir ist mitten in einer Bewegung eingefroren, ihr Blick geht über die Schulter nach Manhattan, die Füße zeigen nach Brooklyn, sie ist barfuß, sehe ich, der Körper in ihrem Businesskostüm ist verdreht, ihr Mund steht offen. Auch mein Mund steht offen. Etwas Unvorstellbares ist geschehen. Ich erwarte, dass der Turm, den ich gerade zusammenfallen sah, immer noch hinter der Wolke steht, dass er da sein wird, wenn sich der Staub verzogen hat. Das wäre wahrscheinlicher als das, was ich eben gesehen habe. Ich wohne einem Weltwunder bei.
Mir fällt die
Hindenburg
ein – kein besonders originelles Bild für einen Deutschen in New York –, aber das ist genau das, was mir einfällt. Ich habe eine CD-ROM von
Time Warner
, auf der die größten Ereignisse des Jahrhunderts gespeichert sind. Der brennende deutsche Zeppelin ist mit drauf. Die Menschen, die vor den Wrackteilen flüchten, die auf Lakehurst regnen. Ich bin jetzt einer dieser Menschen. Eine Figur auf einem Historiengemälde. Ich sehe mich da, neben der barfüßigen Frau im Businesskostüm, ein blasser 39-jähriger Deutscher in einem hellblauen Hemd, das er über der Hose trägt.
Ich denke an die große Geschichte, die Weltgeschichte, und an die kleine Geschichte, die Geschichte, die ich erzählen kann. Ich sehe jetzt, dass die Frau im Businesskostüm ihre Schuhe in der Hand hält. Wahrscheinlich kann man in Büroschuhen nicht lange laufen. Als ich wieder hochgucke, hat sich ihr Gesicht verändert, das Staunen ist zu Schrecken geworden. Um mich herum überall Schreien. Tränen. Geschwindigkeit. Die Starre ist vorbei. Am Himmel donnert ein Düsenjäger. Die Frau im Businesskostüm setzt ihren Weg nach Osten fort, barfuß.
Die Menschen drängen mir entgegen, schneller jetzt. Wir sind in der Mitte der Brücke. Terroristen, Anschlag auf Amerika, Präsident Bush, das Donnern der Kampfflugzeuge. All die Informationen haben jetzt plötzlich auch mit mir zu tun. Die Brooklyn Bridge ist ein Wahrzeichen. Ich weiß nicht, was in den Türmen passiert ist, aber ich spüre, dass ich hier nicht auf sicherem Boden stehe. Man ist verletzlich auf so einer Brücke. Vielleicht sollte ich besser umkehren und mit den anderen nach Hause gehen, denke ich. Ich wanke und schwanke, aber dann gehe ich weiter, Richtung Westen, auf den zweiten Brückenpfeiler zu, während der Staub sich langsam legt. Da ist nur noch ein Turm, nur noch eine schwarze Fahne, und ich weiß immer noch nicht, was ich eigentlich sehe. Als ich den Pfeiler erreiche, halte ich kurz an, hole Anjas Notizblock aus dem Rucksack und schreibe das Wort
Hindenburg
hinein. Ich schreibe es zu den Vokabeln, die Anja lernte, als sie hier ankam.
Against all odds
, steht da und
to flip a coin
und aus irgendeinem Grund hat sie damals auf dem Baruch City College auch gelernt, wie die Farben in einem Kartenspiel auf Englisch heißen:
Clubs, Spades, Hearts
und
Diamonds
. Dahinter steht nun mein Wort.
Hindenburg.
Wenn ich jetzt tot umfalle, finden sie irgendwann den Block mit meinem letzten Wort.
Hindenburg
. Ich denke einen Moment nach, weil ich nicht möchte, dass das so bleibt. Und dann schreibe ich
Damenschuh
dazu, was es natürlich nicht besser macht.
Hindenburg und Damenschuh.
Das ist mein Vermächtnis. Klingt wie ein Roman von Hermann Hesse oder eine
Rammstein
-Platte. Am Ende bin ich doch nur ein Deutscher. Ich laufe weiter auf den zweiten Turm zu, in dem die Antworten auf all die Fragen stecken, die mich umtreiben. Dieser Turm noch. Noch dieser Turm. Nicht einen Moment denke ich daran, dass auch er zusammenfallen könnte, so wie ich mir 1989 nie vorstellen konnte, dass die Mauer fällt, nicht einmal im Herbst.
Immer weniger Menschen kommen mir entgegen, einen Augenblick habe ich Angst, dass auch auf der anderen Seite der Brücke eine Polizeisperre stehen könnte, aber da ist niemand. Keine Regeln, keine Linien mehr in der Stadt, die Bürgermeister Giuliani in seiner Amtszeit in eine Metropole des Gesetzes verwandelte. Ich habe Giuliani ein paar Mal begleitet und mir immer wieder seine Theorie über
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