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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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aus. Männer sieht man nie. Sie lebt mit einer Anwältin zusammen, und früher war sie mal mit einem Afghanen verheiratet.
    Sie folgte ihm nach Kabul, wo er sie in ein strenges muslimisches Leben pressen wollte, dem sie irgendwann mit Mühe und Not entfliehen konnte. Von da an wurde das Misstrauen gegenüber der arabischen Welt zu ihrer Lebenseinstellung. Und der Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen, für die Werte der westlichen Welt zu ihrer Lebensaufgabe.
    Und jetzt fliegen Flugzeuge ins World Trade Center, und im Fernsehen sagen sie, dass die Männer, die die Flugzeuge gelenkt haben, aus dem Land kommen, aus dem sie einst geflohen ist. Sie greifen die Stadt an, in der sie geboren ist, in der sie als Jüdin und Frauenrechtlerin ein sicheres Leben führt.
    Phyllis Chesler hat gerade in ihr Tagebuch geschrieben, sie fühle sich von ihrer eigenen Geschichte eingeholt. Sie denkt, dass sie nun endlich nichts mehr erklären muss, dass jetzt alle, die Deutschen, die Europäer, die ganze Welt, begreifen werden, welche Gefahr vom Islam ausgeht. Sie steht vor ihrem Haus, schaut in den Himmel und fragt mich, ihre deutsche Nachbarin, ob es Krieg gibt, und in ihrer Frage schwingt Hoffnung mit. Ich höre das, ich sehe es in ihrem Blick. Und ich finde es seltsam. Sie ist Jüdin und ich bin Deutsche, ein DDR-Kind, das in der Schule Friedenstauben malte. Meine Mutter wurde im Krieg geboren, ihr Vater kämpfte in Russland, er wurde in Frankreich von einem Splitter getroffen und verlor sein Bein. Ich habe Krieg immer als etwas begriffen, das schlecht ist und das hinter uns liegt.
    Ich erzähle Phyllis Chesler, dass auf Spiegel-Online keine Rede von Krieg gewesen sei. Phyllis Chesler nickt, als habe sie mit dieser Antwort gerechnet. Dann sagen wir noch irgendwas Belangloses und gehen zurück ins Haus. Jeder in seins.
     
     
     
    D
ie Asche des gefallenen Turmes liegt in den Straßen Downtowns wie Schnee. Dreißig Meter von mir entfernt watet ein Fotograf vorsichtig durch den Staub, die Welt durch seinen Fotoapparat beobachtend. Wir sind Mitglieder einer Expedition. Wir betreten den Mond. Ich schreibe die Wörter »Schnee«, »Weihnachten« und »Mond« in mein Notizbuch. Und dann den Satz: »Es ist ganz still.« Meine Schrift ist kippelig, krakelig und die Wörter werden mir später wahrscheinlich albern und nichtssagend vorkommen, aber ich habe endlich das Gefühl, etwas zu erleben, das man nicht auch am Fernseher erleben kann.
    Es schaffen ja nur wenige auf den Mond. Ich würde gern jemanden anrufen, um zu erzählen, was ich sehe, um zu sagen, dass ich hier bin, dass ich die Insel erreicht habe. Ich könnte dem Hamburger Kollegen jetzt die Lage schildern, ich könnte Bilder beschreiben, die er dort drüben nicht sieht. Aber mein Handy funktioniert nicht mehr. Kein einziger Balken auf dem Display, alles ist ausgefallen. Klar, es gibt kein Netz auf dem Mond. Ich laufe die Park Row hinunter, wo ein Asiate seinen Lebensmittelladen schließt. Ich frage ihn, ob ich bei ihm telefonieren dürfe. Das Festnetz funktioniert ja sicher. Der Händler schüttelt den Kopf. Er verschwindet in seinem Laden und lässt die Jalousien herunter. Er hat Angst vor Plünderern, denke ich. Plünderer. Ein Wort, von dem ich nicht angenommen hatte, dass ich es jemals im Alltag benutzen würde. Plünderer. So ist das also.
    Ich laufe den Broadway hinunter, hier sind nur noch ganz wenige Menschen. Ab und zu sehe ich einen Bauarbeiter oder einen Polizisten. Sie haben ernste, entschlossene Gesichter, so als wüssten sie, was sie tun. Es ist ein amerikanischer Gesichtsausdruck. Die Männer strahlen die Zuversicht aus, dass alles zu regeln ist. Sie bewegen sich voller Kraft, die Arme vom Körper abgewinkelt, die Hände geöffnet, bereit, irgendwo zuzupacken, die Welt zu retten, die Löcher zu flicken, die Türme wiederaufzubauen. Manche von ihnen tragen einen Mundschutz aus Papier, aber sie tragen ihn nicht vorm Mund, sie tragen ihn um den Hals, so wie John Wayne sein Staubtuch trägt.
    Die St. Paul's Chapel sieht weihnachtlich aus, aber auch gruselig, weil auf den Grabsteinen des kleinen Friedhofes Fetzen hängen. Papierfetzen, Stofffetzen, Plastikfetzen und Fetzen von Sachen, über die man nicht nachdenken möchte. Eigentlich sieht sie aus wie eine Halloween-Kulisse. Die Luft ist rauchig und süßlich, ich laufe am Friedhofszaun entlang zur Church Street, wo ein einzelner Mann in einer Uniform steht. Ich laufe bis zum Ende des Kirchgartens, die Luft flirrt,

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