Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Laune.
Alex ruft an und sagt, dass er auf der Brücke ist. Es knistert in der Leitung, und er ist weg.
I
ch halte das Handy in der Hand für den Fall, dass Anja nochmal anrufen sollte. Ich laufe am ersten Brückenpfeiler vorbei, an dem die traurige Geschichte des deutschen Brückenbauers und seines Sohnes steht. Sie starben beide noch während der Konstruktion der Brooklyn Bridge. Die Brücke ist der Frau und Mutter der Männer gewidmet. Ich weiß das, weil ich hier stand und meinen Eltern die Ehrentafel vorgelesen habe, als wir die Brücke endlich gefunden hatten. Es war wirklich schweinekalt, aber die beiden hörten interessiert zu. Es stand nicht da, ob die Frau irgendwie an den Konstruktionsarbeiten beteiligt gewesen war. Sie war die Mutter und die Ehefrau, das reichte, und wenn Anja jetzt anrufen sollte, würde ich ihr das vielleicht sagen. Am Ende gleicht sich alles aus. Sie würde das vielleicht als Machospruch abtun, aber das könnte ich aushalten. Ich bin guter Dinge, denn ich bin auf der Brücke, ich bin auf dem Weg an das richtige Ufer. Aber sie ruft nicht an, und dann vergesse ich den Gedanken, wie ich für einen Moment alle ironischen, selbstreferentiellen, persönlichen Gedanken vergesse, weil der rechte der beiden Türme zusammenfällt.
V or unserem Haus ist es dunkel geworden. Die Sonne scheint nicht mehr. Der Himmel ist nicht mehr blau. Es sieht aus, als wären Wolken aufgezogen, als würde es gleich anfangen zu regnen. Der Rauch vom World Trade Center legt sich wie ein grauer Schleier auf unsere Straße. Auch im Fernsehen ist nur noch ein winziges Stück vom blauen New Yorker Himmel zu sehen. Einer der CNN -Reporter hat es auf einen Balkon in der Upper Westside geschafft. Hinter ihm liegt Manhattan. Die Wolkenkratzer haben keine Konturen mehr. Alles ist grau. Die Stadt hat ihre Farbe verloren.
Ich stelle mir vor, wie Alex über die Brücke rennt, wie er bereits seinen Blick schärft und nach Details sucht, nach Bildern, die es später in seinen Text schaffen werden. Alex kann sich Farben, Stimmungen, Gesichter und Dialoge merken, als würde er sie filmen. Ich weiß nicht, wie er das macht. Er starrt, das ist alles, was ich weiß. Minutenlang starrt er im Fahrstuhl Menschen an oder in der Schlange im Supermarkt und vergisst alles um sich herum. Er sagt, er habe ein fotografisches Gedächtnis. Er guckt auch Leuten zu, wenn sie sich streiten, als gehöre er zur Familie.
»So was macht man nicht«, sage ich danach immer zu ihm.
»Warum nicht? Ist doch interessant«, entgegnet er. Oder: »Das ist das richtige Leben.«
Für Alex ist alles Material. Die intimsten, die komplexesten, die schwierigsten Geschichten sind die besten. Die umkreist er, geht ihnen auf den Grund, so lange, bis er das Gefühl hat, dicht genug rangekommen zu sein. Es kann Tage, Wochen, manchmal Monate dauern. Und wenn sich ihm jemand in den Weg stellt, wenn jemand sagt, bis dahin und nicht weiter, dann reizt ihn das erst recht. Regeln, die er nicht versteht, Dinge, die nur aus Prinzip so gemacht werden, bringen ihn auf die Palme. Er streitet mit Beamten, beleidigt Polizisten, geht Anwälten auf die Nerven.
Am Telefon auf der Brooklyn Bridge hat er noch gesagt, alle würden Richtung Brooklyn laufen, niemand nach Manhattan wie er. Er klang ruhig, fast entspannt, die Brücke war schon geschlossen, aber er hatte es durch die Sperre geschafft, hatte die erste Hürde genommen. Es wird sicher spät werden heute.
Dann ruft Debbie an.
»Anja!« Ihre Stimme ist laut und hysterisch, ich hätte sie fast nicht erkannt.
»Hi Debbie«, sage ich. »Wo bist du? Noch bei Marty?«
»Ja, in seinem Haus in Ditmas Park. Aber ich fahre gleich nach Hause … Die Wahlen sind abgeblasen.«
»Das tut mir leid«, sage ich und denke, dass es vielleicht doch nicht klappt mit ihrem neuen Job. Debbie geht nicht darauf ein. Sie erklärt mir die Situation. Ihren Notfallplan. Sie hat immer sofort für alles einen Plan. Als Alex noch auf unserem Dach überlegte, ob er wegen eines Flugzeugabsturzes nach Manhattan fahren sollte, hatte Debbie längst Walter angerufen und ihm den Auftrag erteilt, Derek von der Schule abzuholen. Walter arbeitet bei Macy's, einem Kaufhaus in Downtown Brooklyn, Dereks Schule ist ganz in der Nähe. Kurz nachdem das zweite Flugzeug eingeschlagen war, waren Derek und Walter bereits zu Hause und sitzen seitdem mit geschlossenen Fenstern in ihrer Wohnung in der President Street wie in einem Bunker. Debbie hat
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