Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Er schüttelt den Kopf.
»Manhattan is closed, Sir«, sagt er.
»Aber ich bin Journalist«, sage ich.
»Die Insel ist gesperrt, Sir. Nur Hilfskräfte kommen durch«, sagt der Mann.
Auf der Fahrbahn unterhalb der Fußgängerbrücke jagen zwei Polizeiwagen entlang. Sie fahren parallel nebeneinander her wie Kampfflugzeuge. Ansonsten ist die Straße leer. Zwischen den Soldaten drängen Menschen aufs Festland, viele sind mit feinem weißen Staub bedeckt, ihre Gesichter sind seltsam leer, da ist keine Erleichterung, das andere Ufer erreicht zu haben, keine Angst, nur Leere. Ich schaue auf die Türme und denke darüber nach, was ich von hier aus beschreiben könnte. Der Blick von der anderen Seite des Flusses, die Gesichter der Flüchtenden, vielleicht ein, zwei Interviews. Das ist gar nichts. Ich denke an meinen aufgeregten Kollegen am Telefon. Ich will jetzt da rüber. Ich will. Ich muss.
»Ich muss, ich muss, ich muss«, sagt Anja, wenn ich ihr erklären will, was mich so unruhig macht, warum ich immer weiterziehe, warum ich nicht stillstehen kann. Es ist eine feste Wendung in unserer Beziehung geworden. Halb Diagnose für eine Krankheit, halb Witz.
Der andere Mann mit der Pistole redet auf eine blonde Frau ein, die ihm erzählt, sie sei von
CNN
. Nur Hilfskräfte dürfen passieren, sagt der Mann auch zu ihr. Es ist die Regel. Die Linie. Aber aus irgendeinem Grund spüre ich einen Spielraum, da ist ein Riss, da ist eine winzige, weiche Stelle in der Haltung der beiden Männer, die sie hierher geschickt haben, um die Brücke zu bewachen. Wahrscheinlich ist das jetzt auch alles zu groß für sie, vielleicht haben sie Fragen, die mächtiger sind als die Regel, vielleicht ist es das. Die kleine ungeschützte Stelle zwischen den Schulterblättern dieser Kämpfer genügt mir. Ich mache einen Schritt nach außen und laufe einfach an ihnen vorbei. Ich schlüpfe durch den Riss in der Linie.
»Hey«, ruft einer der Männer. »Hey, bleiben Sie stehen.«
Aber es klingt nicht bedrohlich, es klingt hilflos und verebbt zwischen den Menschen, die mir entgegenkommen. Ich bleibe nicht stehen, jetzt nicht mehr. Ich schaue geradeaus und laufe. Nach hundert Metern drehe ich mich um, die Männer sind kaum noch zu erkennen. Die blonde Frau von
CNN
steht immer noch dort hinten. Die habe ich geschlagen. Ich rufe Anja an und sage ihr, dass ich auf dem Weg nach Manhattan bin.
»Es waren Terroristen«, erklärt sie.
»Ja«, sage ich. »Ich weiß.«
Es ist still in der Leitung, ich warte darauf, dass sie etwas sagt wie: »Sei vorsichtig.« Aber sie sagt es nicht, und dann reißt die Verbindung ab. Ich versuche, sie nochmal anzurufen, aber komme nicht durch.
I ch will weiter fernsehen, aber Mascha lässt mich nicht, sie ruft mich energisch aus der Küche, ich reiße mich los. Im Stillen hoffe ich, dass Mascha sich alleine mit dem Hampelmann beschäftigen kann, aber ein Blick auf die Anleitung reicht, um zu begreifen, dass das nicht gut geht. Es klingt alles ziemlich kompliziert. Man muss die einzelnen Teile, die Beine und Arme ausschneiden und zusammensetzen. Es gibt Haken und Glöckchen in der Tüte, das ist alles zu schwer für eine Dreijährige.
Bedienungsanleitung für den Ausschneidebogen »Der kleine Hampelgeiger«
Was man zum Basteln alles braucht:
1. Musterklammern
2. Bindfaden (nicht zu dick)
3. Schere (für Löcher und Ecken ist eine Schneidefeder sehr praktisch)
4. Karton und Klebstoff, wenn man den Bogen zur Verstärkung aufziehen möchte
5. Wasserfarben oder Buntstifte bei der schwarzweißen Vorlage
6. Geduld, etwas Zeit und gute Laune
Mascha nimmt die Kinderschere, ich die große. Sie soll das Bein ausschneiden, ich Rumpf, Geige, Kopf und Hut. Ich habe ewig keinen Bastelbogen ausgeschnitten, fällt mir auf, als ich mich an dem karierten Mantel zu schaffen mache. Ich weiß gar nicht, ob es hier Bastelbögen gibt. Mascha bringt jeden Tag einen Stapel selbstgemalter Bilder mit nach Hause, darunter eine große Anzahl von Selbstporträts, über denen steht: »My name is Mascha and I'm special.«
Das Ausschneiden des Hampelmanns erinnert mich an meine Schulzeit. Immer genau der Anleitung folgen, schön an der Linie entlang schneiden, keine Zacken entstehen lassen. Gut gemacht, Anja.
Mascha gibt schon auf, ihre Schere ist zu stumpf für die dicke Pappe. Ich schneide wenigstens noch das größte Teil fertig aus, bevor ich wieder auf meinen Platz auf dem Sofa zurückkehre.
Geduld, Zeit und gute
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