Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
die erste eingeschlagene Fensterscheibe angehört, die man sofort reparieren muss, weil sonst die ganze Stadt verlottert, ich habe mir seine Diagramme angeschaut, auf denen die Kriminalitätsrate immer weiter nach unten ging, bis sie kaum noch zu sehen war. Giuliani ist ein dünner, kleiner Mann, der sich die Haare über die Glatze kämmt, Mafiafilme mag und von einem seltsamen Hofstaat umgeben ist. Er wirkt auf mich eher wie der Bürgermeister aus einem Comic-Heft, aber er hat sich durchgesetzt. Es gibt kein Sexkino mehr am Times Square, die Immobilienpreise steigen in den Himmel. Am Ende durfte man im Central Park nicht mal mehr Fußball spielen.
Jetzt sind alle Fensterscheiben auf einmal zerbrochen, und es wirkt, als hätten sie New York aufgegeben.
I ch gehe auf die Straße, um die Mülltonnen reinzustellen, wegen des Dogpoops . Es ist mir nicht wichtig, aber ich will etwas tun. Irgendetwas, das mich vom Fernseher wegholt. Ich zerre die Tonnen über den Asphalt, und als ich zurück ins Haus gehen will, sehe ich meine Nachbarin Phyllis Chesler. Sie steht im Vorgarten ihres Hauses, mit verschränkten Armen, schaut in den Himmel und dann sieht sie mich und fragt, was die Deutschen sagen: Ob es Krieg geben wird?
Schon wieder Krieg. Erst Debbie, jetzt Phyllis, aber das eigentlich Bemerkenswerte ist, dass Phyllis überhaupt mit mir spricht, dass sie weiß, wer ich bin, dass sie mich so was fragt.
Phyllis Chesler hat noch nie mit mir geredet. Sie nickt mir zu, wenn wir uns auf der Straße begegnen, sie sagt »Hello« . Mehr sagt sie nicht. Sie ist anders als die anderen Nachbarn, die mich bereits kurz nach unserer Ankunft auf der Straße angesprochen und gleich zu Potluck Dinners eingeladen haben. Ich war ganz überwältigt von so viel Interesse und Freundlichkeit. Innerhalb von einer Woche hatte ich Vicky und Tom, Seily und Tim, Ken und Mary, Roxy und Mike, Norma und Glenn sowie deren Kinder Robert und Emily, Duncan und Erica, Erin und Davon, Nino und Isabella kennengelernt und wurde über alle wichtigen und unwichtigen Dinge informiert. Wichtig war meinen Nachbarn vor allem die Philosophie der Backyards . Backyards werden die Schläuche genannt, die sich hinter den Brownstonehäusern strecken. Jedes Haus hat einen Backyard . Unsere sind die größten im ganzen Viertel und die einzigen, die offen sind – das ist die Backyard -Philosophie. Man kann von einem Garten zum anderen gehen. Die Kinder können bei Ken aufs Baumhaus klettern, bei Roxy und Mike Dodgeball spielen und bei uns können sie schaukeln. Zur Backyard -Philosophie gehört allerdings auch, dass Tom von gegenüber, ein Abrüstungsexperte, der nachts am Fenster steht wie ein Geist und ohne Ankündigung in meinem Garten stehen kann, was ich als eher unangenehm empfinde. Aber im Großen und Ganzen ist die Backyard -Philosophie schon gut. Sie ist auch wertvoll. Die New York Times hat mal darüber geschrieben und ein Artikel in der New York Times hebt den Grundstückswert, und letztlich geht es meinen Nachbarn natürlich vor allem darum; im Gegensatz zu uns sind sie Eigentümer.
Umso ärgerlicher finden sie, dass sich Phyllis Chesler ihrer Philosophie verweigert. Sie hat keine Türen im Zaun und man muss, um von unserem in Roxys und Mikes Backyard zu kommen, erst durch Vicky und Toms und Seily und Tims Backyard gehen, was ein ziemlicher Umweg ist. Außerdem ist ihr Garten kein Garten, er ist ein weißer Fleck, eine Wüste im Backyard -Paradies. Es gibt keinen Baum, kein Blumenbeet, keinen Rasen. Nicht mal Unkraut gibt es, denn Phyllis hat den gesamten Garten mit Plastikfolie auslegen lassen, damit sie keine Arbeit mit ihm hat. Die Fassade ihres Hauses ist die einzige, an der eine Feuerleiter hängt, noch so ein Ärgernis für die Nachbarn, die sich sorgen, ihre Kinder könnten draufklettern und abstürzen. Demnächst soll es wegen der Feuerleiter eine Aussprache mit Phyllis geben. Aber Phyllis macht nicht den Eindruck, als würde sie sich von unseren Nachbarn einschüchtern lassen.
Sie zählt zu den radikalsten Feministinnen des Landes. Sie schreibt Bücher, in denen sie Frauen auffordert, mutiger gegen die Männer zu kämpfen und untereinander solidarischer zu sein, und schafft es regelmäßig in die New York Times . Sie war Anfang der 90er mal auf dem Cover vom Weekend Magazine , als eine der berühmtesten Frauenrechtlerinnen der Vereinigten Staaten. In ihrem Haus gehen Frauen mit kurzen Haaren, weiten Umhängen und flachen Schuhen ein und
Weitere Kostenlose Bücher