Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
und dann sehe ich den Turm, riesig, dunkel, mit einem orangefarbenen Riss im oberen Teil, die Außenhaut vibriert in der Hitze wie eine Fata Morgana. Ein traumhaftes Bild. Da muss ich hin. Das ist das Ziel.
»Wo willst du denn hin, Junge?«, fragt der Mann. Er ist ein Feuerwehrmann, und er sieht sehr traurig aus.
»Näher ran«, sage ich. »Ich bin Journalist.«
»Get lost!«, sagt er. Keine Erklärungen, nur der Befehl. Verschwinde. Er sieht nicht wütend aus, nicht herrisch. Er sieht wirklich nur traurig aus und müde, aber da ist kein Spielraum. Es gibt wieder eine Regel hier, spüre ich, aber es ist keine Regel, die der traurige Feuerwehrmann auf der Feuerwehrschule gelernt hat. Es ist eine allgemeingültige Regel, eine Lebensregel, eine Regel des gesunden Menschenverstandes. Ich nicke, obwohl ich die Regel nicht akzeptiere. Sie gilt nicht für mich. Ich bin Reporter. Cordt, mein Chef in Hamburg, glaubt, dass ein Reporter verrückt sein muss. Ich weiß nicht genau, ob das stimmt, aber ich glaube, dass einem gesunder Menschenverstand nicht immer weiterhilft. Er hält einen manchmal nur auf. Der Feuerwehrmann sieht mich an wie einen bedauernswerten Idioten, und das bestätigt meine Theorie. Ich drehe mich um und gehe die kleine Straße am Friedhofszaun zurück. Ich werde es an der nächsten Ecke wieder versuchen, denn ich muss noch dichter heran. Ich bin noch außen, an der Oberfläche, dort, wo es nur Beschreibung gibt, aber keine Emotion.
Als ich dreißig Meter gelaufen bin, schreit der Feuerwehrmann hinter mir: »RUN!«
Ich drehe mich um und sehe, wie er mit den Armen rudert und langsam beginnt, loszulaufen. Er ist ein großer, schwerer Mann, er steckt in einer steifen Uniform, und er braucht ein wenig Zeit, um in Schwung zu kommen.
»Run«, schreit der Feuerwehrmann wieder. »We're gonna lose the second tower.«
Hinter ihm flimmert die Wand des Turmes, sie zittert und bebt, und dann platzt sie.
A ls ich ins Haus zurückkomme, listet der CNN -Reporter auf seinem Balkon in der Upper Westside gerade auf, was in den letzten knapp zwei Stunden alles passiert ist, für die Zuschauer, die sich erst jetzt zugeschaltet haben. Während er spricht, fällt der zweite Turm, der mit der Antenne, in sich zusammen. Eine Weile sieht man noch die Antenne, als würde sie mit aller Kraft versuchen, sich aufrecht zu halten.
»Good Lord«, sagt der Moderator und schweigt.
Dann geht es weiter mit der Übertragung, immer weiter: das Pentagon, das Flugzeug in Pennsylvania, Fighter Jets , die Taliban.
Ich würde gerne das Gerät aus dem Fenster schmeißen, aber ich bin nicht mal in der Lage, es auszuschalten. Mascha kuschelt sich auf meinen Schoß, ich halte sie fest, so fest ich kann, und sage ihr, dass alles gut ist, alles gut wird, dass wir keine Angst zu haben brauchen.
I
ch sehe den Turm kippen oder ich bilde mir ein, ihn kippen gesehen zu haben, während ich laufe. Ich renne, am Broadway schließen sich zwei Bauarbeiter an, wir rennen jetzt zusammen. Hinter uns rumpelt irgendwas, aber ich habe keine Angst. Ich lache einem der Männer zu, die neben mir laufen. Ich könnte ewig so laufen. Es geht mir gut, ich war so dicht dran, wie es ging. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Ich kann schreiben, dass ich zweihundert Meter vom Turm entfernt war, als er zusammenbrach. Vielleicht waren es auch nur hundertfünfzig. Oder hundert. Vielleicht schreibe ich hundert. Ich kann schreiben, dass ich vor dem zusammenbrechenden Turm durch die Straßen Manhattans fliehe. Ein Turm folgt mir durch Downtown. Das ist ein Satz. Das kann ich schreiben. Ich kann schreiben: Ich war dabei. Es ist etwas ganz Großes passiert, und ich war dabei. Ich habe es beobachtet. Ich bin der Mann vor Ort. Sie haben mich hierher geschickt, sie bezahlen den Mietzuschuss und einen Heimflug im Jahr für mich und meine Familie. Ich habe sie nicht enttäuscht. Ich stand nicht auf der anderen Seite des Flusses. Ich bin der
Spiegel
-Mann.
An der Ecke zum Broadway stehen in einer Bankfiliale Menschen gedrängt hinter der Scheibe und schauen zu uns heraus. Es sieht nicht so aus, als wäre in der Filiale noch Platz für uns, und vor allem sieht es nicht so aus, als würden die Menschen nochmal die Türen öffnen. Ich sehe in ihren Gesichtern, wie dicht uns die Wolke auf den Fersen ist. Für die Menschen dort bewegen wir uns hinter Glas, wie Lebewesen in einem Terrarium. Für sie sind wir jetzt Teil einer anderen Welt, zu der auch die Staubwolke
Weitere Kostenlose Bücher