Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
ihnen verboten, das Haus zu verlassen.
Debbie redet und redet. Sie will keine Stille zulassen, denke ich, nicht zeigen, dass sie auch nicht weiß, was geschieht und wie es weitergeht. Sie wirkt immer so tough , aber wahrscheinlich ist sie viel ängstlicher als ich. Sie hat ihrer Katze die Krallen ziehen lassen, aus Angst, sie könnte Derek kratzen.
»What about you?«, fragt Debbie. Sie stöhnt, als sie erfährt, dass Alex auf dem Weg nach Manhattan ist.
»Hoffentlich werden sie ihn nicht über die Brücke lassen. Ich hab gehört, die Brücken sind gesperrt.«
»Er ist schon auf der Brücke«, sage ich. »Wir haben gerade telefoniert.«
»Oh my god. Ich hab gewusst, dass er lebensmüde ist«, sagt Debbie.
»Und die Kinder?«, fragt sie.
Ich sage ihr, dass Mascha bei mir ist und Ferdi noch in der Schule.
»Well«, sagt Debbie, »es ist natürlich deine Entscheidung, aber ich würde Ferdinand aus der Schule abholen. Zwei Flugzeuge im World Trade Center, eins im Pentagon. Wer weiß, was als Nächstes passiert.«
»Was soll denn noch passieren?«, frage ich. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als drei Flugzeugabstürze innerhalb von einer Stunde. Für mehr reicht meine Phantasie nicht.
»Ich will ja nicht den Teufel an die Wand malen, aber es könnte Krieg geben.«
Sie legt auf. Krieg. Mit dem Wort kann ich nichts anfangen. Es hat nichts mit mir zu tun. Auch jetzt nicht. Sicher heulen dort drüben, wo Alex hinläuft, Sirenen. Es ist ein Unglück. Aber die Sirenen kommen aus dem Fernseher. Hier bei mir ist es ganz still. Der Kater hat Hunger. Dann hat Mascha Hunger. Mir fällt ein, dass ich auch noch nichts weiter gegessen habe. Ich mache uns einen Toast. Ich versuche, meine Mutter anzurufen, komme aber nicht durch. Bei Alex ist nur der Anrufbeantworter an. Please leave a message after the beep. Ich gehe mit Mascha auf die Terrasse und halte nach anderen Kindern Ausschau, mit denen sie spielen könnte, aber es ist niemand zu sehen. Ich gehe die Treppe hoch zu meinem Computer und lese Spiegel-Online . Das World Trade Center brennt, das Pentagon brennt. Die Taliban sollen dahinterstecken und ein Mann mit einem Namen, den ich noch nie gehört habe. Ich frage Mascha, ob sie müde ist und nachher vielleicht Mittagsschlaf machen möchte. Sie schüttelt den Kopf.
Dann stürzt der Südturm ein. Er fällt in sich zusammen. Dieses hohe stabile Gebäude, das nachts immer so schön leuchtet, einer von Ferdinands Lieblingswolkenkratzern, ein Wahrzeichen New Yorks – weg. Ich schlage die Hände vors Gesicht auf meinem Sofa im Wohnzimmer, mir laufen die Tränen über die Wangen. Ich wische sie weg. Ich mache weiter mit meinem Tag. Mascha ist hier, und Mascha versteht nichts. Sie wird traurig, wenn ich traurig bin. Ich schneide am Hampelgeiger herum, schiebe Mascha Apfelstückchen in ihren Mund und singe The wheels on the bus go round and round , Maschas Lieblingslied.
Ich rufe Alex an. Alex nimmt nicht ab.
E
s ist ein Bild wie ein Seufzer. Einen Augenblick noch scheint sich der Turm gegen sein Schicksal zu stemmen, das er, anders als wir, schon längere Zeit zu kennen schien, er zittert und wankt und bricht schließlich müde zusammen. Ein alter Boxer. Es klingt bescheuert, aber der Turm erscheint mir in diesem Moment wirklich menschlich, verletzbar, gebrechlich. Er war mit Menschen gefüllt, und die Menschen sind jetzt tot. All die Menschen.
Als ich im Sommer 1990 zum ersten Mal in New York war, besuchte ich mit einem deutschen Kollegen irgendeinen Lobbyisten, der in einem von tausenden Hochhäusern in einem kleinen Eckbüro saß. Mein Kollege und ich waren nie zuvor in Amerika gewesen, wir waren Teil einer ostdeutschen Delegation, die nach dem Mauerfall nach Amerika eingeladen worden war, und sehr aufgeregt, als wir mit dem Fahrstuhl hinauf in den Himmel zu dem Lobbyisten schossen, dessen Name mir inzwischen entfallen ist. Ein wichtiger Mann, ein Schreibtisch, eine Couch, zwei Fenster über Eck. Und wenn man aus den Fenstern sah, erblickte man hunderte Fenster, hinter denen weitere wichtige Menschen saßen. Ich habe mich winzig gefühlt, ameisengroß, als ich wieder unten auf der Straße war und die Fassaden hinaufstarrte, mit all ihren Fensterlöchern, hinter denen Menschen den Lauf der Welt bestimmten. All die Menschen.
Ich sehe dem Tod zu. Das ist es, ich sehe dem Tod zu. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich Menschen sterben.
Bis jetzt waren die Dinge zu reparieren, rückgängig zu machen,
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