Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
potenzielle Überträger von gefährlichen Krankheiten, wir hatten uns an die Regeln zu halten. Regeln waren wichtig, das lernte auch Ferdinand in der Schule. Es gab so viele Regeln, dass es schwer war, den Überblick zu behalten: Regeln für den Klassenraum, Regeln für die Community , Regeln für die Eltern, Regeln der New Yorker Schulverwaltung.
Die Regeln für den Klassenraum hatten die Schüler zusammen mit dem Lehrer am Anfang des Schuljahres ausgearbeitet:
Sage immer die Wahrheit.
Sei für dich selbst verantwortlich.
Bevor du um Hilfe bittest, versuche es erstmal alleine.
Grenze niemanden aus.
Bleib ruhig, wenn du dich über etwas ärgerst.
Trinke nicht länger als fünf Sekunden im Unterricht aus deiner Flasche.
Kaue nicht Kaugummi.
Eltern mussten sich verpflichten, an Elternversammlungen, Klassenveranstaltungen und anderen Schulaktivitäten teilzunehmen, dafür sorgen, dass das eigene Kind pünktlich zur Schule kommt, und jeden Tag mindestens fünfzehn Minuten mit ihm lesen. In den Regeln der Schulverwaltung stand, dass es verboten ist, illegale Drogen rund um die Schule zu verkaufen und Waffen zu benutzen. Drogen und Waffen! In der Sesamstraße!
In Ferdinands Klassenzimmer stehen ein Klavier und ein Sofa. Die Briefe, in denen uns seine Lehrer regelmäßig über die Fortschritte unseres Sohnes informieren, klingen wie Familienpost. Von Lyon Terry, Ferdinands Lehrer aus der zweiten Klasse, wissen wir aus seinen Briefen, dass er in den Ferien die Brüder Karamasow und Harry Potter gelesen hat, dass seine Mutter gerade an Krebs gestorben ist, dass er gerne segelt und ein großer Fan der Mariners ist, einer Baseballmannschaft, die kürzlich die Yankees 6:4 geschlagen hat. Ferdinands neue Lehrerin, Sara Greenfield, hat sich nach dem College in Dritte-Welt-Hilfsprojekten engagiert, drei Jahre an der schlimmsten Schule der Stadt gearbeitet, lebt mit einer Frau zusammen und sieht aus wie eine Punksängerin. Sie ist klein, kräftig, ihr Pony ist kurz, die Haare bunt, die Ohren gepierct und auf dem Oberarm trägt sie ein Schmetterlingstattoo. Sara ist die jüngste Lehrerin der Schule. Letzte Woche, als das neue Schuljahr begann, hat Sara Ferdinand und seinen Mitschülern ein Bild gezeigt, in dem das Porträt einer jungen mit dem einer alten Frau vermischt worden war. Die Kinder sollten sagen, was sie sehen, und dann haben sie darüber gesprochen, wie es kommt, dass jeder etwas anderes in dem Bild sieht, was Perspektiven sind, wie sie entstehen, warum Menschen sich von anderen unterscheiden, warum nicht jeder das Gleiche denkt, warum die Schüler das respektieren sollten.
Ich finde das wunderbar. Als ich in der dritten Klasse war, wollte unsere Lehrerin von uns wissen, welche Jahreszeit die schönste sei. »Sommer«, sagte ein Kind. »Winter«, ein anderes. Ich war auch für Sommer. Aber Sommer war falsch, genauso wie Frühling und Herbst. Die richtige Antwort war: »Alle Jahreszeiten sind schön.« Es war eine der einschneidenden Erfahrungen meiner Schulzeit: Du darfst deinen Gefühlen nicht trauen. Erst hier, in New York, verstehe ich, dass derjenige, der eine andere Meinung hat, nicht mein Feind ist.
Auf der Meinungsseite der New York Times stehen oft zwei gegensätzliche Kommentare zum gleichen Thema nebeneinander, und ich lese meist den lieber, der nicht meiner Meinung entspricht. Er überrascht mich. Auf Partys in New York diskutieren die Leute miteinander, aber sie kämpfen nicht. Sie tauschen Meinungen aus, ohne den anderen missionieren zu wollen. Zu Hause habe ich das selten erlebt. Da hockt jeder in seiner Ecke. Als ich gleich nach dem Mauerfall zum Studentenaustausch in Dortmund war, lebte ich für ein paar Wochen mit westdeutschen Studenten in einer WG. Wir saßen zusammen in Seminaren, tranken Bier und fragten uns aus. Es gab ein ehrliches Interesse aneinander und eine große Lust, sein eigenes Leben in Frage zu stellen, auf beiden Seiten. Das änderte sich schnell. Als ich mich danach bei der Berliner Zeitung bewarb, wo ich auch mein Volontariat gemacht hatte, sagte mir der Herausgeber Erich Böhme, Ostler hätte die Zeitung schon genug, er würde nur noch Westler einstellen. Ich bin dann ins Berlin-Büro der Welt gegangen, wo es außer mir zu dieser Zeit nur noch einen Journalisten aus dem Osten gab, und bin fünf Jahre später zur Berliner Zeitung zurückgekehrt. Ich war jetzt eine Ostlerin, die bei Springer gearbeitet hatte. Das ging.
Ferdinands Schulklasse im Prospect Park.
Im Foyer der
Weitere Kostenlose Bücher