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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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P.S. 321 stehen noch die Tische vom Kuchenbasar zum Wahltag, darauf große silberne Thermoskannen, Pappteller und Plastikbecher. Die dicke Wachfrau sitzt hinter ihrem Tisch wie jeden Tag. Sie schickt Mascha und mich ins Sekretariat, wo schon andere Eltern stehen und ihre Kinder abholen wollen. Die Sekretärin, der wir unsere Ölrechnungen vorlegen mussten, fragt nach dem Namen und der Klasse des Kindes, sie ruft im Klassenraum an, spricht kurz mit dem Lehrer und dann wird das Kind, begleitet von einem anderen Kind, ins Sekretariat gebracht und übergeben.
    Sie rollt die Augen, jedes einzelne Mal, wenn wieder eine Mutter ins Sekretariat kommt oder jemand anruft und sich erkundigt, ob die Kinder abgeholt werden sollen. »Nein«, sagt sie. »Lieber nicht.« Aber der Strom der Eltern reißt nicht ab.
     
     
     
    I
ch nehme einen zweiten Zug durch die Zähne. Ich habe den Tod in den Lungen. Einer der Bauarbeiter drückt und hebelt an der Eisentür herum, sie springt auf, ein paar Treppenstufen führen nach unten in einen schwarzen Kellergang. Der Mann mit dem Feuerzeug leuchtet das Treppenhaus an. Es ist kaum etwas zu erkennen. Wir stehen um das Einstiegsloch herum und schauen hinein. Es könnte da unten noch gefährlicher sein, weil sich das Gift am Boden sammelt. Dann fällt man in irgendeinem Keller um, wo einen erst recht keiner findet. Das denke ich, und offenbar denken das auch meine Jungs hier. Wir stehen unschlüssig an der Schwelle. Eines ist klar: Ich bin keiner der Männer, die in Abenteuerfilmen die Führung übernehmen, keiner der Kerle, die aus der bürgerlichen Existenz heraustreten, wenn es darauf ankommt. Die den anderen den Weg aus der Katastrophe weisen. Kein Geschäftsmann, der über sich hinauswächst. Ich habe natürlich davon geträumt, so ein
Superman
zu sein. In endlosen Vorlesungen an der Universität in Leipzig habe ich mir vorgestellt, dass irgendwelche Terroristen den Hörsaal stürmen, um, aus welchem Grund auch immer, das Mädchen zu entführen, in das ich verliebt war. Ich allein habe sie daran gehindert. Ich bin hinter meinem Klapptischchen hervorgesprungen, habe die drei oder vier Terroristen niedergestreckt und bin mit dem Mädchen verschwunden, in den Untergrund, weil ein bürgerliches Leben für uns nicht mehr möglich war, nicht in einem Staat wie der DDR. Das war das Szenario. Aber es sind nie Terroristen aufgetaucht. Bis heute. Und nun weiß ich: Ich bin kein
Superman
, ich lasse mir den Weg aus der Katastrophe lieber erklären.
    Es wird nicht heller, ich stelle mich auf die erste Treppenstufe und dann mit dem anderen Fuß auf die zweite, atme ein, atme schnell wieder aus, warte. John Maynard fällt mir ein, »John Maynard war unser Steuermann«. Fontane. »Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.« Lustig, wie wir damals Buffalo ausgesprochen haben, Mitte der 70er in der 30. Oberschule Berlin-Prenzlauer Berg. Inzwischen bin ich dagewesen, in Buffalo.
    Einer der Bauarbeiter hält sich sein T-Shirt vor das Gesicht. Ich nehme einen Zipfel von meinem hellblauen Oberhemd, aber das ist voller Staub und ich lasse ihn wieder fallen. Ich hätte auch die Beutelhosen und das T-Shirt anlassen können, es ist alles so egal am Ende. Tamara Bunke trieb in einem Fluss in Bolivien, als sie sie fanden. Ihre Mutter hat ihr Gesicht auf dem Foto einer bolivianischen Zeitung erkannt, das ihr ein kubanischer Kommunist nach Ostberlin schickte. Sie hat den Brief aufgemacht, den Zeitungsausschnitt angeschaut, ihre Tochter erkannt, dann hat sie den Brief wieder zugeklebt und versteckt. Sie hat es ihrem Mann nicht gesagt, weil er es nicht ertragen hätte. Frauen sind so viel härter. Der Mann ist lange tot. Die Mutter kämpft um das Vermächtnis ihrer Tochter. Sie will nicht, dass sie als Geliebte von Che Guevara in die Geschichte eingeht. Sie solle ein eigenständiges Leben behalten, hat sie mir vor ein paar Tagen erzählt, als wir in dem Gartenrestaurant in Zeuthen saßen. Zeuthen. Brandenburg. Wieso hat Fontane eigentlich über ein Schiffsunglück auf dem Eriesee geschrieben? Bestimmt hat er auch nur einen Zeitungsausschnitt gesehen und sich vorgestellt, wie es war. Im Juli habe ich in Hollywood mit einem Produzenten geredet, der die Liebesgeschichte will. Tamara Bunke soll von Winona Ryder gespielt werden, Che von Antonio Banderas, hat er mir gesagt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihn die wahre Geschichte interessierte, ihn interessierte die bessere. Andererseits liebe ich Winona Ryder. Sie könnte

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