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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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weil ich früher Katholik im Sozialismus sowie Sozialist in der katholischen Kirche war und nun ein Ostdeutscher im Westen bin, ein Zoni in New York. Immer in der Diaspora. Immer das Gefühl, auf der falschen Seite des Flusses zu stehen.
     
     
     
    I ch wähle wieder die Nummer vom Spiegel -Büro. Kerstin ist nach Hause gegangen, weil sie sich um ihre kleinen Geschwister kümmern muss, sagt Sabine. Ihre Stimme ist leise, noch leiser als sonst. Sie sagt, sie rufe mich an, sobald sie was von Alex höre.
    Debbie sagt am Telefon, Alex sei klug. Der setze sein Leben nicht aufs Spiel. Ich bin mir da nicht so sicher. Er wusste ja nicht, dass der Nordturm fallen wird. Niemand wusste das. Im Fernsehen haben sie gesagt, die Türme seien so stabil gebaut worden, dass sie nicht einstürzen können.
    Ich muss Debbie versprechen, Ferdinand abzuholen. »Ja«, sage ich.
    Alles ist besser, als hier herumzusitzen und zu warten.
    »Komm, Maschenka, wir holen Ferdi ab.«
    Mascha ist begeistert. Sie zieht sich sofort die Sandaletten an, setzt den Helm auf und stellt sich neben ihr neues Puky-Rad, das wir ihr zum Geburtstag in Deutschland gekauft haben. Ich zögere. Ich weiß nicht, ob ich jetzt hinter Mascha die Straße herunterrennen kann. Sie hat gerade erst bremsen gelernt und ich habe ständig Angst, dass sie in ein Auto rollt.
    »Ach, Mascha«, sage ich. »Das machen wir lieber ein anderes Mal.«
    Mascha bleibt beharrlich neben ihrem Rad stehen. Und ich habe nicht die Kraft, Nein zu sagen.
    Sie läuft schnell die Treppe hinunter, ich trage das Rad hinterher, schaue die Carroll Street entlang. Die Straße ist leer, die Türen unserer Nachbarn sind zu. Ich bin froh, nicht noch einmal Phyllis Chesler zu begegnen. Ich weiß immer noch nicht, was die Deutschen sagen. Und es ist mir auch völlig egal. Mascha steigt auf, fährt unsere Straße entlang, vorn an der Ecke biegt sie in die 7 th Avenue ein. Ich laufe hinterher. Auf den ersten Blick scheint alles wie immer zu sein, vor dem Key Food Supermarkt manövriert einer dieser riesigen amerikanischen Trucks, um einen Container in die Lagerhalle zu schieben. Der kleine Buchladen hat auf, der Weinladen auch. Die Ampeln springen auf Walk und Stop und wieder zurück, niemand beachtet sie, alle laufen zwischen den Autos über die Straße, wie es ihnen passt.
    Jeden Morgen und jeden Nachmittag laufe ich diesen Weg entlang, kurz nach acht, wenn ich Ferdinand zur Schule bringe, und kurz vor drei, wenn ich ihn wieder abhole, und immer bekomme ich gute Laune, jedes Mal ist es wie ein Energieschub, die vielen Leute auf der Straße zu sehen, die alle in Bewegung sind, alle etwas vorzuhaben scheinen. Frauen und Männer in Businessanzügen, Mütter, Nannys, Jogger, Walker, Biker, Dogwalker , unser irischer Nachbar Mike mit seinem roten Pick up Truck , die alte italienische Frau, die sich in ihrem Vorgarten dreht und die Arme in die Luft wirft, als würde sie tanzen, der junge Mann, der auf den Stufen seines Hauses raucht und dabei telefoniert, die durchgedrehte, unfassbar dicke, ehemalige Sinologieprofessorin, die vor der Kirche ihr Lager aufschlägt, der zahnlose Vietnamkriegsveteran am Garfield Place, die Schülerlotsin in ihrer Pinguinuniform. Alle reden, winken sich über die Straße zu, lachen, verabreden sich für später, rufen: »Hi, how are you today?« Das ist unsere kleine heile Welt, das war sie bis vor drei Stunden.
    Jetzt lacht niemand, jetzt umarmen sich Frauen mit Tränen in den Augen, sammeln sich Leute vor dem Fernseher im Irish Pub, um die Nachrichten zu verfolgen. Mascha und ich überholen Passanten, die weiße Masken vor dem Mund tragen, ich kann sie nicht ansehen, diese Menschen mit ihren staubbedeckten Sachen und den roten Augen. Sie sind der Beweis, dass das alles kein Horrorfilm ist, dass es wirklich passiert, nicht einmal drei Meilen entfernt, dort, wo Alex ist. Der Gedanke an ihn schnürt mir den Hals zu. Ich bin froh, dass ich mich hinter meiner Sonnenbrille verstecken kann und niemanden treffe, der mich fragt, wie es mir geht.
    Was würde ich sagen?
    Nicht so gut. Mein Mann ist weg. Er war zu Hause in Brooklyn, er war in Sicherheit, aber dann, nach dem zweiten Flugzeug, ist er zum World Trade Center gefahren, zu dem Ort, vor dem alle fliehen. Nein, Feuerwehrmann ist er nicht. Auch kein Polizist. Er ist Reporter. New York-Korrespondent. Es ist sein Job, über solche Dinge zu berichten. Und ehrlich gesagt war ich anfangs ein bisschen sauer, dass ich zu Hause bei den Kindern

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