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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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meine alte und neue Welt miteinander versöhnen. Mein Leben wird wohl nicht verfilmt, es wird aber sicher ein paar kleine Nachrufe geben. Ich hatte kein schlechtes Jahr. Im Frühjahr hing auf der Buchmesse ganz Leipzig voll mit Plakaten, auf denen mein Kopf zu sehen war. Mein Roman erschien als Hörbuch. Im Sommer habe ich den Kischpreis gewonnen. Im Herbst sterbe ich dann. Ich habe mein Soll erfüllt. Ich habe jede Menge Bücher geschrieben, zwei Söhne gezeugt und als Soldat der Nationalen Volksarmee habe ich, zusammen mit dem Gefreiten Herrmann, unsere Kaserne in der Märkischen Schweiz mit hunderten Laubbaumsetzlingen umpflanzt. Das ist jetzt fast zwanzig Jahre her, die Bäumchen sind inzwischen sicher größer als ich, in jedem Fall aber größer als der Gefreite Herrmann, der ein kleiner Soldat war. Das denke ich. Ich war in Buffalo. Ich glaube nicht, dass Fontane das geschafft hat.
    Mitten in meine großkotzigen letzten Gedanken hinein treten aus der schwarzen Wolke zwei Soldaten mit Stabtaschenlampen. Die Lichtkegel der Lampen tanzen durch den Staub und weisen uns schließlich den Weg in den Keller. Einer der Soldaten geht voran, der andere folgt. Dazwischen ich und die beiden Bauarbeiter. Mein Größenwahn verfliegt. Wir folgen dem Soldaten wie Schafe durch einen gewundenen Kellergang, die Luft wird besser, und schließlich stehen wir vor einer Tür, unter der ein Licht scheint. Der Soldat öffnet die Tür, schiebt uns in einen Raum, der voller Menschen ist, alle sind mit Staub bedeckt, aber nicht so schlimm wie wir. Es ist ein Kellerraum, es gibt keine Fenster, aber einen Schreibtisch mit einem alten schwarzen Telefon in der Ecke und Kisten mit Wasserflaschen. Drei Menschen fallen mir auf. Ein dicker Mann in Polizeiuniform, der auf dem Boden liegt wie ein Käfer und leise jammert, eine dunkelhäutige Polizistin, die sich übergibt, und ein Mann in einem Football-T-Shirt der
New York Jets
, der an einer dicken, goldenen Halskette eine Polizeimarke trägt. Der Mann steht wie ein Coach in der Mitte des Raumes, verteilt Wasserflaschen und sagt irgendetwas zu den beiden Soldaten, die uns hierhergebracht haben, und die, wie mir jetzt auffällt, gar keine Soldaten sind, sondern Polizisten. Sie verschwinden wieder.
    Der Mann mit der Kette gibt mir eine Wasserflasche und sagt, dass ich mir damit dort hinten auf dem Klo die Augen ausspülen soll. »Und versuch' so viel wie möglich von dem Scheiß auszuhusten«, sagt er. Ich nehme die Flasche und gehe zu dem kleinen Klo. Aus der Tür tritt ein Mann, der vielleicht Mitte vierzig ist, und sagt mir: »Kotzen musst du. Kotz' den Dreck aus.« Ich nicke und schließe die Klotür. Es gibt einen winzigen Spiegel da. Meine Haare sind weiß und strohig und stehen nach allen Seiten ab, auch meine Augenbrauen sind weiß, meine Augen rot, ich sehe aus wie der verrückte Professor aus
Zurück in die Zukunft
. Ich wasche mir mein Gesicht und spüle mir meine Augen aus, ganz vorsichtig, um meine Kontaktlinsen nicht zu verlieren. Die brauche ich noch, jetzt, wo ich erstmal weiterlebe. Ich huste, ich stecke den Finger in den Hals und versuche mich zu übergeben, aber das klappt nicht. Dann gehe ich zu den anderen zurück, setze mich auf einen Stuhl in der Ecke und warte darauf, wie es weitergeht.
     
     
     
    H eute Morgen, als der zweite Turm getroffen war, als klar war, dass es kein Unfall, sondern ein Terroranschlag ist, hat die Direktorin der P.S. 321 die Lehrer zu sich gerufen und angeordnet, ganz normal mit dem Unterricht weiterzumachen und die Schüler nichts davon wissen zu lassen. Wenn sie fragten, warum Asche auf den Schulhof fiele, woher der Geruch käme, sollten sie sagen, dass es ein Feuer in Manhattan gäbe, mehr nicht. Außerdem dürften die Lehrer keinen Schüler alleine nach Hause gehen lassen. Die Lehrer sollten in der Schule bleiben, bis das letzte Kind abgeholt würde, notfalls bis in die Nacht.
    Es ist keine Anweisung der Schulbehörde, kein Notfallszenario, das sie in der Schublade hatte. Ihr Plan ist entstanden, nachdem sie heute Morgen neben Kelly, der Vorsitzenden des Schulelternausschusses, im Sekretariat stand. Sie hatten das Radio an, um zu hören, was passiert ist, und Kelly sagte: »Oh my god, Scott hat jetzt gerade dort ein Meeting, in Windows on the World .« Scott ist Kellys Mann, Windows on the World ist das Restaurant ganz oben im Nordturm, der vor einer Stunde eingestürzt ist.
    Die Direktorin glaubt, dass das erst der Anfang ist, dass viele Kinder

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