Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Tröster. Er kann mich nicht lange festhalten. Er ist zu unruhig, er kann nicht stillhalten. Aber als Simone starb, hat er stillgehalten, und als mein Vater starb, auch. Es war das Jahr von Maschas Geburt. Wir hatten ihn gerade noch eingeladen, um ihm zu erzählen, dass wir ein Kind bekommen, eine Tochter diesmal. Mein Vater, der nie so richtig daran geglaubt hat, dass wir zusammenbleiben werden, dass Alex in der Lage ist, eine feste Beziehung zu haben, hat gelächelt und über meinen Bauch gestrichen, er hatte keine Zweifel mehr an uns. Eine Woche später war er tot, Herzinfarkt mit 59. Ich bin zu ihm nach Hause gegangen. Er lag auf der Liege seines Arbeitszimmers, genauso, wie er sich abends zum Schlafen hingelegt hatte, das Häufchen mit seinen Sachen hatte er vorher auf den Stuhl gelegt, seine Unterlagen, Zeichnungen und Berechnungen auf dem Schreibtisch geordnet.
Mein Vater war Chemiker, ein leidenschaftlicher Forscher und Wissenschaftler, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, emeritierter Professor. Ich habe nie so richtig verstanden, woran er genau geforscht und gearbeitet hat, aber ich wusste immer, dass er für seine Arbeit gelebt hat wie Alex für seine. Wir konnten nur ahnen, wie es ihn verletzt hat, dass er sie verloren hat. Nach der Wende wurde sein Institut aufgelöst, mein Vater musste in den Vorruhestand gehen. Außer ein paar amerikanischen Wissenschaftlern war keiner mehr interessiert an seiner Forschung. Und ich glaube, dass es das war, was ihm das Herz gebrochen hat. Dass er daran gestorben ist. Eine Woche lag ich im Bett, meine kleine Tochter in meinem Bauch, alles war grau und leer, ich kannte so was nicht von mir, und Alex auch nicht, aber er blieb bei mir, bis es mir wieder besser ging.
Ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen würde.
I
ch halte den Atem an und überlege, ob ich die Gasse zurücklaufe und dann weiter nach links in Richtung East River, wo es ja irgendwann hell werden muss. Aber mir fehlt die Kraft und die Zuversicht, allein in die schwarze Wand hineinzugehen. Ich bin froh, dass die beiden Bauarbeiter hier sind, auch wenn sie genauso wenig mutig zu sein scheinen wie ich. Sie sehen mich ratlos an, stumm, auch sie halten die Luft an. Ich kann ganz gut Luft anhalten, glaube ich. Anfang der 80er Jahre, als ich meine erste Digitaluhr geschenkt bekam, habe ich mit der Stoppfunktion Luftanhalten trainiert. Ich hab es damals fast anderthalb Minuten geschafft, und nun mit dem Marathontraining sollte das nicht schlechter geworden sein. Wenn man allerdings zu lange Luft anhält, wird der erste Atemzug gierig. Ich habe keine Lust, die dicke warme, süßlich riechende Luft, die Todesluft, gierig einzuatmen. Ich darf also nicht zu lange warten. Ich hatte keine Angst, von dem Turm verschüttet zu werden, aber vor dieser dunklen, schweren Luft habe ich jetzt Angst. Bei Hotelbränden schleppen sie doch immer völlig unversehrt aussehende Tote ins Freie. Sie sterben an Rauchvergiftung. Das ist es. Rauchvergiftung. Verdammte Scheiße.
Ich denke: Ich sollte bei meiner Familie sein. Jeder vernünftige Mann ist in Notsituationen bei seiner Familie. Ich würde so gern in der Küche sitzen jetzt mit allen und einen kleinen Witz machen, um ihnen die Angst zu nehmen und mir. Anja ist bei den Kindern, wenigstens das. Sie wären Halbwaisen, Anja Witwe. Als mein Vater mit Mitte 30 ins Krankenhaus musste, weil seine Nieren nicht richtig arbeiteten, hat meine Tante meine Mutter gefragt, ob sie noch ihren schwarzen Mantel habe. »Ja«, sagte meine Mutter, und meine Tante meinte: »Schmeiß ihn nicht weg.« Meine Tante war Ärztin. Sie haben sich vorgestellt, wie es ohne meinen Vater weitergehen konnte. Meine Mutter hat das später mal erzählt, als mein Vater wieder gesund war. Wir haben gelacht. Der schwarze Mantel. Mein Vater hat mitgelacht. Es geht ja immer weiter. »Ich habe mein Leben gelebt«, ist so ein Satz von meinem Vater. »Ich noch nicht«, kann ich nur sagen. Ich nicht. Ich bin nicht in Frieden gegangen. Ich wollte wieder nur gewinnen, besser sein als die anderen, alles richtig machen, näher dran sein. Es gibt keine Antworten in einem brennenden Haus. Man kann helfen, aber ich bin kein Feuerwehrmann, ich bin ein bescheuerter Reporter. Ich bin auch nur jemand von den Idioten, die zur Autobahn fahren, wenn es einen Unfall gab. Es sind die Minderwertigkeitskomplexe, die mich hierher getrieben haben. Weil ich aus dem Osten komme, weil ich ein dickes, sommersprossiges Kind war,
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