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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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bleiben musste. Ich bin auch Reporterin. Ich wäre gerne mitgegangen.
    Ich schäme mich für ihn, für mich, für diesen Beruf, der davon lebt, sich an das Leben von anderen ranzuhängen. Man nimmt an Ereignissen teil, aber man steht immer außen, lässt andere agieren, mischt sich nicht ein, engagiert sich nicht, bezieht keine Stellung, nicht direkt zumindest. Ich finde, es ist einer der schönsten Berufe auf der Welt, weil man ständig in andere Leben schlüpfen kann, in andere Welten. Aber hier auf der 7 th Avenue habe ich das gleiche ungute Gefühl, das ich habe, wenn Leute den Hörer auflegen, weil sie meine Fragen unangemessen finden.
     
     
     
    N
ach etwa einer Minute nehme ich den ersten vorsichtigen Atemzug. Ich ziehe den Staub durch die Zähne, und warte darauf umzufallen. Die verdammte Wolke steht. Es wird nicht heller.
    Das ist mein Fegefeuer, denke ich. Sollte ich hier jemals herauskommen, gebe ich den Beruf auf, das schwöre ich. Das ist alles nichts für mich. Das Rumlungern, das Wegelagern, das Belästigen. Ich kümmere mich ab jetzt mehr um meine Familie. Vielleicht werde ich Lehrer, dann bin ich nachmittags zu Hause. Ich wollte doch immer Lehrer werden. Es ist nie zu spät für einen Neubeginn. Ich werde anfangen, etwas Nützliches zu machen, nicht nur vom Blut anderer zu leben wie ein Vampir. Was ich gerade erlebe, ist doch eine Parabel auf die Vermessenheit und Vergeblichkeit meines Berufes.
    »Wo willst du denn hin, Junge?«
    »Näher ran.«
    Näher, immer näher. Ich muss, ich muss, ich muss. Am Ende steht man in einer kleinen, verlassenen Gasse zwischen Taubendreck und leeren Schnapsflaschen, von links und rechts rollen turmhohe Aschewolken heran. Wenn das die Antwort auf all die Fragen ist, die mich seit Jahren antreiben, dann habe ich sie verstanden, Gott. Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr beichten.
    Ich werde wieder öfter in die Kirche gehen, weil dort Frieden ist und Stille. Ich muss mich mehr um meinen großen Sohn kümmern, der in Berlin lebt, Flori. Ich werde von nun an nicht nur mit großen Geschenken vor seiner Tür stehen, sondern mit Zeit. Ich habe drei Kinder, alles Heiden. So war das auch nicht gedacht. Ich bin getauft, ich habe einen katholischen Kindergarten besucht und später acht Jahre lang einen katholischen Schulhort, ich war vier Jahre lang Ministrant in St. Joseph, Berlin-Weißensee, ich habe dort die Erstkommunion empfangen, ich habe gebeichtet, den Religionsunterricht besucht, bin gefirmt worden, und dann habe ich eine Heidin aus Lichtenberg geheiratet, auf dem Standesamt Mitte. Ich habe ihrem Großvater, einem ehemaligen Lehrer für wissenschaftlichen Kommunismus, auf unserer Hochzeit versprochen, sie glücklich zu machen. »Mach' meine Enkeltochter glücklich«, hat er mir zugeraunt, und mir dabei fast die Hand zerquetscht. »Versprochen«, habe ich gesagt. Noch ein Meineid. Seine Enkeltochter sitzt jetzt, da die Welt auseinander fällt, allein in der Küche in Brooklyn. Alles gelogen, denke ich, und höre dazu die Melodie eines Liedes von Heinz Rudolf Kunze. Das muss man sich mal vorstellen: Sie versprechen, dass dein Leben an dir vorbeizieht, wenn es zu Ende geht, und dann taucht der Großvater deiner Ehefrau auf, der wissenschaftlichen Kommunismus an der Fachhochschule für Bekleidungstechnik unterrichtete, und erinnert dich an dein Eheversprechen. Man erwartet das Requiem von Mozart, und dann singt Heinz Rudolf Kunze.
     
     
     
    F erdinands Schule ist ein Betonkasten, der von außen aussieht wie ein Gefängnis und auch so gut bewacht ist. Niemand kommt an der dicken schwarzen Frau vorbei, die in der Ecke an einem kleinen Tisch sitzt, Ausweise kontrolliert und Namen und Adressen in ein großes Buch einträgt. Ich fand sie ziemlich furchterregend, damals vor zwei Jahren, als wir das erste Mal hier waren, genau wie die Sekretärin, die Ferdinand nicht aufnehmen wollte, ohne drei Ölrechnungen zu sehen als Beweis dafür, dass wir wirklich hier im Schulbezirk wohnten. Wir hatten nur eine Ölrechnung, wir waren ja gerade erst hergezogen. Später hat sie uns Drohbriefe nach Hause geschickt. Ferdinand dürfte nicht mehr zur Schule kommen, wenn er nicht die Arztbescheinigung über seine Impfungen vorlegen würde. Den deutschen Impfausweis musterte sie, als hätte ich ihr eins von Maschas Bilderbüchern angedreht. Aus ihrer Sicht war Deutschland irgendein Land außerhalb der Vereinigten Staaten, dessen Gesetzen man nicht trauen konnte. Und wir waren Einwanderer,

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