Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
in diesen Stunden Familienangehörige verlieren. Viele Eltern wohnen in Park Slope und arbeiten in Manhattan. Und solange nichts Genaues bekannt ist, sollen die Kinder nichts wissen und sich nicht sorgen. Sie sollen lesen und schreiben und malen wie an jedem Tag.
Kelly ist sofort nach Hause gerannt, aber sie hat ihren Mann nicht mehr erreicht. Sie ist zur Schule zurückgelaufen, um in der Nähe ihrer Kinder zu sein und sitzt jetzt in dem Schulsprecherzimmer gleich neben dem Sekretariat, umringt von anderen Müttern.
Ich kenne Kelly, sie wohnt in unserer Straße, und ich stehe oft neben ihr vor dem Schuleingang, in einem großen Pulk von Eltern und Nannys, die darauf warten, dass die Lehrer die Klassen rausbringen. Kelly kennt alle, sie ist immer im Gespräch, hat immer irgendwelche Flyer in der Hand. Sie ist eine dieser engagierten Mütter, die mit auf jeden Klassenausflug kommen und die Namen aller Schüler kennen.
Kurz vor Ferienende haben wir beide die Klasse ins Studio von WNYC , einem New Yorker Radiosender, begleitet. Aber ich kann nicht sagen, dass wir viel miteinander geredet hätten. Frauen wie Kelly schüchtern mich ein und große Schulklassen auch. Es war ein besonderer Schulausflug. Das Hörfunkstudio befand sich in Brooklyn Heights, wir fuhren mit der Subway. Die Kinder waren aufgeregt. Sie hatten Gedichte und Geschichten geschrieben, die sie vortragen sollten. Ein Mädchen berichtete von seinem Umzug nach New York, Ferdinand trug einen Hip-Hop-Song über Eierkuchen vor. Pancakes . Kellys Tochter Chloe hatte sich ein Gedicht über Blumen ausgedacht.
Zum Schluss trat Lyon Terry, der Klassenlehrer, ans Mikrofon und erzählte, wie seine Mutter seine Brüder und ihn als Kinder zum Lesen anhielt. Sie schob ihren Söhnen jede Woche heimlich einen Quarter zu, damit sie sich ein Comic-Heft kaufen konnten. Alle wussten, dass Lyon Terrys Mutter vor Kurzem gestorben war, er hatte ihr die Geschichte gewidmet und trug sie mit kippelnder Stimme vor. Die Kinder waren ganz still. Ich kämpfte mit den Tränen und dachte, dass ein deutscher Lehrer sich vor seinen Schülern niemals so verletzlich zeigen würde.
Danach machten wir Smores in einem Restaurant, weil Mr. Terry als Kind am Lagerfeuer immer Smores gemacht hat. Smores macht man aus Marshmallows und Schokolade. Man steckt sie zwischen Crackers. Sie schmecken wunderbar süß und klebrig, vor allem, wenn man sie selbst übers Feuer hält. Und weil dann noch Zeit war, liefen wir zum Ufer des East River, auf die Brooklyn Heights Promenade, und ich fotografierte die Klasse vor der Skyline Manhattans. Die Sonne schien, die Türme glitzerten, Ferdinand hockte zwischen seinen Mitschülern und lachte, das Schuljahr war fast vorbei, sein zweites in New York.
Im Schulsekretariat ist es stickig und warm. Sie haben die Klimaanlagen ausgemacht, damit kein Rauch in den Raum zieht. Die Eltern reden leise miteinander. Ich kenne die meisten nur vom Sehen und bin froh, dass ich mich an Maschas kleiner, warmer Hand festhalten kann. Ein Kind nach dem anderen wird von Mitschülern nach unten gebracht und von der Sekretärin entlassen. Die Kinder wundern sich, was das soll, warum sie drei Stunden vor Schulschluss abgeholt werden. Sie wissen wirklich nichts, sie haben keine Ahnung, was geschehen ist. Hier, an dieser Schule in Brooklyn ist die Welt noch in Ordnung.
V
or ein paar Jahren habe ich mir nachts um halb drei einmal eine Glatze rasiert, weil ich ein neues Leben beginnen wollte. Ich war ein bisschen angesoffen von einer Geburtstagsfeier im Berliner Fernsehturm zurückgekommen und hatte beim Zähneputzen festgestellt, dass ich für das Buchprojekt, in dem ich gerade feststeckte, der falsche Mann war. Es war ein Buch über die verstorbene Berliner Rocksängerin Tamara Danz, die ich kurz vor ihrem Tod ein paar Mal interviewt hatte. Das kam mir plötzlich alles total größenwahnsinnig und vermessen und schäbig vor, und um das zu dokumentieren, nahm ich eine Haarschneidemaschine und rasierte mir eine Glatze. Ich wollte nicht vergessen, was für ein Versager ich war. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hoffte ich, dass ich alles nur geträumt hatte. Glücklicherweise war es mitten im Winter, ich konnte eine Mütze aufsetzen. Die Haare wuchsen nach, ich schrieb das Buch über die tote Sängerin zu Ende, das Leben ging weiter.
So ist das mit mir und den guten Vorsätzen.
Ich sitze auf meinem Stuhl und schaue mir den Raum an, in dem ich gelandet bin. Die Geräusche
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