Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
weißen und grünen Rücken der Schachteln. Ich glaube, ich rauche jetzt eine. Ich habe vor vier Jahren aufgehört, während einer Recherchereise durch Polen. Ich habe Lech Wałęsa von einer Wahlkampfveranstaltung zur nächsten verfolgt, eines Morgens hatte ich meine Zigaretten im Hotel vergessen und habe einfach keine neuen gekauft. Ich habe in Polen, wo jeder rauchte, aufgehört und fange in New York, wo niemand raucht, wieder an. Ich laufe jetzt, ich bereite mich auf den Marathon vor, aber wer weiß, ob es jemals wieder einen New York Marathon gibt. Dies ist der perfekte Moment für eine Zigarette, ich werde rote Marlboros kaufen, wenn schon, denn schon. Ich betrete den Laden, hole mir eine Flasche Wasser und bringe sie zu dem Mann an der Kasse – ein Inder, schätze ich, oder ein Pakistani.
»Ist das alles?«, fragt er.
»Nein«, sage ich und schaue auf das Regal in seinem Rücken. Dann nehme ich schnell einen grünen Apfel aus dem Obstkorb und lege ihn auf den Tresen. Ich glaube, es beginnt doch kein neues Leben. Es geht weiter wie bisher. Und in diesem Leben will ich eigentlich nicht mehr rauchen. Ich will den Marathon laufen.
Ich gehe mit meinem Apfel und der Wasserflasche noch einmal zur Brooklyn Heights Promenade, um hinüber auf die Insel zu schauen. Ich will Abschied nehmen von dem Tag, denke ich, aber wahrscheinlich suche ich nur ein Schlussbild für meine Reportage. Es fällt mir schwer, mich von Dingen zu trennen. Ich weiß nie, wann ich wirklich Schluss machen muss. Nicht in meinen Texten und nicht in meinem Leben, ich möchte immer noch ein klein bisschen weiter, um die nächste Ecke, nur noch fünf Minuten, diesen einen Satz, dann ist Schluss.
Ich stehe auf der Promenade wie auf einer Beerdigung. Fünfzig Leute sind da, vielleicht hundert, einige haben Videokameras dabei und Fotoapparate, die sie über den Fluss richten. Die Stimmung ist nicht touristisch und auch nicht voyeuristisch, alle reden leise, gedämpft. Die Skyline sieht ganz gewöhnlich aus auf einmal. So wie die Skyline von Oklahoma City oder Pittsburgh oder Boston. Das Besondere ist weg, der Stolz, das Großmäulige, das Einmalige. Wer immer das geplant hat, hatte einen Sinn für Symbolik. Sie haben New York in die Fresse geschlagen. Die Türme fehlen wie zwei Frontzähne, denke ich und schreibe es auch gleich in meinen Block.
»Die Insel raucht wie eine alte, zahnlose Frau«, schreibe ich.
F erdinand sagt, Derek solle zu ihm kommen. Es ist keine Frage. Es ist eine Aufforderung. Er hat die Nase voll von diesem Tag. Erst muss er mittags den Unterricht verlassen, heute, wo sie ausnahmsweise mal Computerspiele machen können. Dann sage ich ihm, dass die Twin Towers eingestürzt sind, seine Lieblingstürme. Und nun wartet er den ganzen Nachmittag darauf, dass eines der Nachbarkinder sich mal im Backyard sehen lässt, aber der Einzige, der kurz an unserer Schaukel vorbeigeschaut hat, war der kleine Robert von gegenüber, der noch nichts begreift.
Ich verstehe Ferdinand. Normalerweise würde an einem warmen, schulfreien Nachmittag wie diesem Debbies Sohn zu uns kommen und mit Ferdinand im Garten spielen. Und später würde Debbie ihn abholen und wir würden zusammen kochen und auf der Terrasse sitzen.
Aber Debbie setzt heute keinen Fuß mehr vor die Tür, und nie im Leben wird sie Derek zu uns lassen, sie lässt ihn ja nicht mal an normalen Tagen bei uns übernachten, weil sie denkt, er könne Heimweh bekommen oder von unserem Kater angegriffen werden.
Ich möchte Ferdinand auch nicht gehen lassen, nicht heute. Ich will ihn bei mir behalten, ihn trösten, wenn er noch einmal sagen sollte, dass er die Türme hat einstürzen lassen.
Ferdinand sagt, wenn Derek nicht zu ihm kommen wolle, könne er ja zu Derek gehen.
»Nee, Ferdi, nicht heute«, sage ich.
»Aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Mir ist langweilig«, sagt er.
Ich lege die Arme um ihn und erkläre, dass Papa bald wiederkommen wird und dass er ihn doch heute bestimmt sehen möchte. Er reißt sich los, geht in sein Zimmer, ich höre ihn auf der anderen Seite der Wand schluchzen. Nicht das noch. Nicht weinen. Bitte nicht.
Ich nehme das Telefon in die Hand und wähle Debbies Nummer.
Debbie redet gleich los. Dass sie auch gerade anrufen wollte, dass sie die ganze Zeit versucht hat, ihre Mutter in Florida zu erreichen, aber nicht durchkommt, dass sie gerade mit ihrer Cousine telefoniert hat, dass alle okay sind, nur Lisa, ihre Schwester, sei ziemlich
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