Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Ich hatte auf der anderen Seite so etwas wie das New York aus meinen Büchern und Filmen erwartet, und dann war da Westberlin. Verkehrsberuhigte Zonen, kleine Geschäfte, Eckkneipen, Sechzigerjahrehäuser mit winzigen Fenstern und weniger Staub als im Osten. Ich bin dann relativ schnell nach Amerika gefahren, um zu sehen, ob ich mir das alles nur eingebildet hatte. Ich war zusammen mit fünf anderen ostdeutschen Journalisten von der US-Regierung zu einer Rundreise eingeladen worden. Wir kamen in Washington an, was sicher ein Fehler war. Washington sah aus wie eine osteuropäische Metropole, all die großen, flachen Verwaltungsblöcke, in denen die wichtigen Männer mit den hochgezogenen Hosen saßen, Parkanlagen, Museen und ein kleines Viertel namens Georgetown, auf das sie so unglaublich stolz waren wie die Ostberliner auf die Kollwitzstraße. Wir fuhren dann weiter nach Virginia und North Carolina und Minnesota, das wirkte alles ziemlich ungemütlich, provisorisch und planlos, Häuser, die zufällig am Straßenrand verteilt worden waren, keine richtigen Zentren, viel Gerümpel, kein Charakter. Die meisten Städte sahen aus, als könnten sie ohne großen Aufwand in 24 Stunden eingepackt und abtransportiert werden. Wir waren in San Francisco, das sehr hübsch war, aber eben hübsch, viele Pastellfarben, eine kleine Straßenbahn und Ausflugsdampfer nach Alcatraz.
Erst in New York fand ich das, was ich hinter der Mauer vermutet hatte. Eine Energie, die mich nicht schlafen ließ. Wir waren nur drei Tage da, und ich lief alle drei Tage durch die Straßen und die Nächte auch. In der ersten Zeit nach dem Mauerfall hatte ich nie Angst, dass sie die Tore wieder zumachen könnten, aber hier, im Sommer 1990 in New York, fürchtete ich, dass ich die Stadt nie wiedersehen würde. Ich fühlte mich unfassbar frei, so weit weg von meiner verspannten Heimat wie noch nie. Ich krallte mich in dem Gefühl fest. Dann fuhr unsere Reisegruppe weiter nach Boston, ich ging ins Hotel, legte mich ins Bett und schlief zwanzig Stunden, während sich die anderen ostdeutschen Delegierten Cambridge anguckten und Hintergrundgespräche mit irgendwelchen Politikwissenschaftlern führten.
New York war die einzige Stadt in der Welt, die mit meinen Erwartungen mithalten konnte, und ich wollte hier irgendwann leben. Dann, neun Jahre später, klappte es. Ich bekam einen Job in New York, ich bezog ein Haus in einem Viertel in Brooklyn, wo auch Paul Auster wohnte und Steve Buscemi, ich fuhr morgens mit der Subway über den East River nach Manhattan, mit im Zug saß die ganze Welt – Chinesen, orthodoxe Juden, Muslime, Russen, Lateinamerikaner –, ich fuhr bis zum Times Square, lief durch die wimmelnden Menschen zu meinem Büro in der Fifth Avenue, ich schlängelte mich wie die anderen zu meinen Zielen, niemand stand sich hier im Weg wie in Deutschland, wie kleine Teilchen, die einander abstoßen, flossen die Passanten über die
Sidewalks
. Ich fuhr mit Fahrstühlen schweigend in den Himmel Manhattans, ich redete mit dem Bürgermeister und dem
Police Commissioner
, ich sah Al Pacino auf einer Studentenbühne, Philip Seymour Hoffman am Broadway und Meryl Streep, John Goodman und Kevin Kline in der
Möwe
im Central Park, ich besuchte
Yankees
und
Mets Games,
badete im Sommer am Rockaway Beach, reiste im Herbst zum
Indian Summer
nach New Hampshire und im Winter zum Skilaufen nach Vermont. Ich fuhr ein Auto mit einem New Yorker Nummernschild, ich hatte Visitenkarten mit einer New Yorker Adresse, ich hatte eine New Yorker Telefonnummer, einen New Yorker Kabelanschluss, einen New Yorker Mietvertrag und das Mitgliedskärtchen einer New Yorker Videothek, aber ich hatte noch nicht das Gefühl, hier wirklich angekommen zu sein, dazuzugehören. Ich habe immer gedacht, eine Stadt wie New York kann man nicht einfach beziehen, man muss sie erobern. Ich glaube, ich habe mir einfach ein bisschen zu viel vorgenommen.
Ich laufe die 12 th Street bis zur Fifth Avenue und dann nach unten in Richtung Washington Square, um eine Bahn nach Brooklyn zu bekommen, und ich habe das seltsame Gefühl, zum ersten Mal wirklich in die Stadt hineinzulaufen. Ich habe diesen Tag mit all den Leuten erlebt, die hier geboren wurden und aufwuchsen. Ich bin jetzt einer von ihnen. Es ist auch meine Stadt. Ich muss nichts erobern, es genügt schon, hier zu sein. Ich bin müde, aber entspannt. Ich gehe nach Hause. Ich bin ein New Yorker.
Die Leute in der Subway sind langsamer und stiller als
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