Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
fertig. Sie hat im Weinladen den ganzen Tag Wasser an Leute verteilt, die aus Manhattan zurück nach Brooklyn gelaufen kamen, Menschen, die aussahen wie Gespenster.
Mich überrascht, dass der Weinladen überhaupt noch aufhat.
»Oh ja«, sagt Debbie. »An Tagen wie diesen trinken die Leute viel.« Sie habe sich auch gerade das erste Glas des Tages eingeschenkt, sie lacht, und ich muss daran denken, dass wir eigentlich heute Abend anstoßen wollten, auf Martys Sieg. Bald würden die Wahllokale schließen und dann die Auszählung beginnen. Und morgen hätte Debbie vielleicht einen neuen Job.
»Bist du enttäuscht?«, frage ich.
»Nein, nein«, versichert Debbie und wechselt schnell das Thema, fragt nach Alex und nach den Kindern. Als Debbie hört, dass Ferdinand zu Derek kommen will, holt sie zu einer längeren Analyse der derzeitigen Lage aus, erklärt mir, dass in den letzten zwei Stunden nichts mehr passiert sei, dass man jetzt mal abwarten müsse, wie Bush reagiere, aber momentan sehe es eher nicht nach Krieg aus. Ferdinand ist zu mir gekommen. Er wartet direkt neben mir. Er hofft. Ich fühle mich wie ein Versager, weil ich es nicht schaffe, dem Trotzanfall eines Achtjährigen zu widerstehen.
Debbie schlägt vor, dass Ferdinand dann gleich bei Derek schlafen könne, was bei mir die üblichen Abwehrreflexe auslöst, weil ich genau weiß, wie der Abend verlaufen wird: vor dem Abendbrot Computer spielen und nach dem Abendbrot ein Video sehen. Aber ich sage nur: »Okay!« Und dann rede ich mir ein, dass Dereks Abendprogramm jetzt wahrscheinlich genau das Richtige für Ferdinand ist.
Zehn Minuten später klingelt es an meiner Tür. Ein kleiner dünner Mann mit langen schwarzen Haaren, schwarzer Lederjacke und schwarzer Jeans huscht an mir vorbei in die Diele. Es ist Walter, Debbies Mann, der Ferdinand abholen soll. Walter sieht noch blasser aus als sonst, und er redet noch weniger. Ich frage ihn, ob er kurz reinkommen will. Er setzt einen Schritt in Richtung Wohnzimmer, dann noch einen, kurz vor der Tür bleibt er stehen. Wahrscheinlich hat Debbie ihm gesagt, er solle sofort wieder nach Hause kommen. Walter führt Debbies Anweisungen immer gewissenhaft aus. Die Beziehung ist mir ein Rätsel. Sie haben sich in der U-Bahn kennengelernt. Debbie war Anfang 40 und hatte gerade beschlossen, ihr ruheloses Leben als Musikagentin zugunsten eines Kindes aufzugeben, sie brauchte nur noch einen Mann, und da sah sie Walter im Q-Train . Walter lächelte. Sie heirateten, bekamen ein Baby, Walter zog bei Debbie in Brooklyn ein.
Debbie redet viel, Walter wenig. Debbie sagt immer, dass das an Walters Arbeit liegt. Walter ist Dekorateur bei Macy's in Brooklyn. Er baut Feiertagsdekorationen auf – und wieder ab. Valentinstag, Ostern, Halloween, Thanksgiving, Weihnachten. Herzen, Osterhasen, Masken, Kürbisse, Schneeflocken. Immer wieder das Gleiche. Jahr für Jahr. Und nur eine Woche Urlaub im Jahr.
Gerade ist Halloween in den Schaufenstern, dahinter werden die Kulissen für Weihnachten vorbereitet.
Ferdinand kommt die Treppe heruntergerannt, mit seinem Rucksack auf dem Rücken. »Hast du deine Zahnbürste?«, frage ich. »Deinen Schlafanzug?« Er nickt. Ich knie mich zu ihm nieder, zupfe an ihm herum und sage ihm, dass wir ihn anrufen, wenn Papa da sei und wenn er es sich anders überlege, könne er einfach Bescheid sagen und wir würden ihn wieder abholen.
»Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagt er und hüpft fröhlich neben Walter die Treppe hinunter, unsere kleine Straße entlang, an den Häusern unserer Nachbarn und der Privatschule vorbei, ich sehe noch, wie sie über die Ampel gehen. In Höhe der Kirche an der Ecke 6 th Avenue verschwinden sie aus meinem Blick.
I
m Autoradio reden sie, berichten, staunen, trauern und analysieren, zwischendurch läuft Klassik, nur eine Station wagt sich, Pop zu spielen. Der Song heißt
Superman
, er läuft schon seit ein paar Wochen auf den Popkanälen, aber nun, während ich durch die Brownstonehäuserstraßen von Brooklyn rolle, begreife ich, dass er genau für diesen Tag geschrieben wurde. Er passt jetzt. Die Nachmittagssonne färbt die Steine orangerot,
I'm only a man, in a funny red sheet
, singt die Band. Und sie singt:
Men weren't meant to fly with clouds between their knees
. Mehr muss man nicht sagen. Ich könnte ewig zuhören, denn hier geht's um mich. Der Song wird ein Hit werden in Amerika, weil überall Männer in Geländewagen durch die Gegend fahren, die verstehen,
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